Full text: Prosa aus Religion, Wissenschaft und Kunst (Band 2, [Schülerband])

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der Atmosphäre und des Erdbodens zu wertvolleren Verbindungen verarbeiten, und der 
Ackerbau hat längst, der Führung Liebigs und Boussingaults folgend, diese Erkenntnis 
praktisch verwertet, indem er seinen Kulturpflanzen bestimmte Mengen billigen Rohmaterials 
in Gestalt von Dünger zumißt und dafür die Ablieferung bestimmter Mengen von land¬ 
wirtschaftlichen Produkten erwartet. Die meisten der organischen Verbindungen, von 
denen man früher meinte, daß sie ausschließlich unter dem Einfluß des Pflanzenlebens 
entstehen können, sind bereits ohne Vermittelung desselben in reinster Form künstlich 
dargestellt worden; die Chemiker können heute von sich mit größerem Rechte als Wagner 
zu Mephistopheles sagen: 
„Was man an der Natur Geheimnisvolles pries, 
Das wagen wir verständig zu probieren, 
Und was sie sonst organisieren ließ, 
Das lassen wir kristallisieren." 
Es läßt sich voraussehen, daß über kurz oder lang der letzte der Stoffe, die man 
bisher oft nur nur Mühe und Kosten aus einzelnen Pflanzen beschaffte, synthesisch dar¬ 
gestellt werden wird. 
Freilich gerade für die wichtigsten unter den organischen Verbindungen, für die 
eigentlichen Baustoffe der Pflanzen, in denen die Lebensbewegungen derselben sich ab¬ 
spielen, für die Kohlenhydrate und Eiweißstoffe, haben die Pflanzen das Monopol ihrer 
Erzeugung sich noch nicht entreißen lassen. Von wirtschaftlichem Standpunkte ist dies 
gewiß bedauerlich; denn an dem Tage, wo es der Chemie gelingen wird, was die ein¬ 
fachsten Algen und Moospflänzchen verstehen, Kohlensäure und Wasser in Stärkemehl 
umzubilden, wird auch die Brotfrage, die ja die erste soziale Lebensfrage ist, gelöst sein. 
So lange wir auf die Getreidegräser angewiesen sind, vermag eine bestimmte Bodenfläche 
nur eine bestimmte Anzahl Menschen zu ernähren; Kohlensäure und Wasser aber sind überall 
genug vorhanden, um für eine unendliche Volksmenge Brot zu schaffen; und da ohne Zweifel, 
wenn erst die künstliche Darstellung der Kohlenhydrate gelungen, ein viel kleinerer Schritt 
erforderlich ist, um aus ihnen in Verbindung mit Stickstoff Eiweiß zu erzeugen, so wird es 
dann auch leicht sein, Milch und Fleisch künstlich zu fabrizieren. Dann wird alle Nahruugs- 
sorge, aller Kampf ums Dasein und alles soziale Übel, das damit zusammenhängt, mit 
einem Schlage beseitigt sein; hoffen wir, daß es der organischen Chemie recht bald gelingen 
möge, den Pflanzen ihr Geheimnis, aus Luft und Wasser Stärkemehl und Eiweis her¬ 
zustellen, abzulernen und dadurch das goldene Zeitalter herbeizuführen. 
Gleich den chemischen lassen auch die physikalischen Vorgänge in der lebenden Pflanze, 
insoweit sie auf den eigentlichen Molekularkräften beruhen, nur solche Besonderheiten 
wahrnehmen, welche aus den chemischen Eigenschaften und dem Gefüge der Bildungsstoffe 
und aus der Anordnung der Zellen ausreichende Erklärung finden. In der Kohäsion 
und Dehnbarkeit, in der Elastizität und Quellbarkeit pflanzlicher Gewebe, in ihrer An¬ 
ziehung und Durchlässigkeit für Gase und Flüssigkeiten hat die physiologische Forschung 
der mechanischen Ursachen für die Diffusionsströmungen der Säfte, für die in den Zellen 
wirkenden Druckkräfte, für den Gaswechsel und die Transpiration, für die Gewebs¬ 
spannungen und die aus diesen hervorgehenden Bewegungen pflanzlicher Organe auf¬ 
geschlossen. Die Zellen selbst sind nicht regellos zusammengehäuft; sie sind in horizontalen 
und vertikalen Reihen, häufiger aber noch in krummflächigen Schichten angeordnet, welche 
im mikroskopischen Präparat das Bild confokaler Scharen von Kreisen, Parabeln und 
Hyperbeln gewähren und dadurch allein bereits auf die mechanischen Faktoren hinweisen, 
welche die Anordnung der Zellen im Pflanzenkörper beherrschen. Längst schon sind auch
	        
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