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©ioccato und Legato. Jedes Detailgebiet der Mechanik hat einen Vertreter seiner höchst¬
vollendeten Ausbildung aufzuweisen und dürfte somit zur Formation ähnlicher „Würden"
Anhalt bieten. Und hiermit habe ich auch schon den Punkt berührt, der das Kriterium
des falschen und des echten Virtuosentums abgibt. Alle jene genannten unbestreitbaren
Fürsten und Helden — aber meiner Meinung nach mehr als zweifelhafte Virtuosen —
Achten Interesse zu erregen und zu glänzen durch Darlegung einer außergewöhnlichen,
noch nicht dagewesenen „fabelhaften" Fertigkeit in einer technischen Spezialität, zu welcher
Neigung, d. h. Anlage der Arm-, Hand- oder Fingergelenke befähigten und eiserne Aus¬
dauer der Übung ermächtigten. In dieser Spezialität gingen sie technisch auf und —
künstlerisch unter. Das wahre Virtuosentum erheischt aber zunächst gleichmäßige und
natürlich möglichst entwickelte Ausbildung in allen technischen Spezialitäten. Hier ist der
berühmte Feuerbachsche Moralsatz: „Folge allen deinen Neigungen, so wirst du keiner
einzelnen zum Opfer fallen" mit vollem Rechte anzuwenden. Die weiften der vorgenannten
Virtuosen sind eben der Spezialität, der sie dienten, zum Opfer gefallen. Dienen soll
man nun aber nichts anderem als — der Kunst: eben so wenig einer einzelnen Spezialität
als ihrem möglichst vollständigen Komplexe. Gute Musik gut ausführen, das ist der Beruf
des Virtuosen. Die Virtuosität, die technische Fertigkeit ist nicht Zweck, sondern Mittel
zu einem höheren Zwecke, und derjenige Virtuose, der das vergißt, ist ein Pseudovirtuose,
steht auf keiner höher« Stufe als der Jongleur und Taschenspieler. Nicht willkürlich habe ich
mir hier den Pianisten unter den Virtuosen ausgewählt. Das Klavier ist das Soloinstrument
pur excellence — der Klaviervirtuose somit der Virtuose par excellence. Vermöge
seines orchestralen Umfanges und der auf diese Eigenschaft gegründeten Selbständigkeit —
eine Selbständigkeit, die andererseits mit dem Nachteil einer gewissen Jndividualitätslosigkeit
notwendig verknüpft ist — eignet sich das Klavier eben vorzugsweise zur Entfaltung einer
selbständigen Virtuosität. Der Klavierspieler (der Organist gleichfalls) ist Legislative und
Executive zugleich, Dirigent seines Orchesters nicht minder wie sein eigenes Orchester. Es
ist hier nicht am Platze, die Bedeutung des Allerweltinstrumentes in seinen Schatten-
uud Lichtseiten darzustellen. Im übrigen erinnere ich kurz daran, daß die Klavierliteratur
der musikalische Mikrokosmus ist, daß sie der Schrein ist, welcher die reichsten und
kostbarsten Schätze des deutschen Tongenius in sich birgt, die ans Licht zu fördern, die
zur Ausstellung zu bringen gerade Beruf des Virtuosen ist, und daß das numerische
Vorwiegen der Klaviervirtuosen nicht bloß zufällige äußerliche Veranlassung, sondern
innerste Berechtigung hat.
Ich habe als Vorbedingung, als Grundlage des wahren Virtuosentums genannt:
Herrschaft über das Material, Auszeichnung nicht bloß in einer technischen Spezialität,
sondern gleichmäßige Bemeisterung möglichst aller technischen Spezialitäten. Beethovens
Klavierwerke sind nichts weniger als Bravourparadepferde, Fingerfertigkeitsdarlegungs-
Apparate: jedoch ihre korrekte techuische Bewältigung allein ist die Aufgabe eines halben
Lebens; und nur ein Virtuose kann diese Aufgabe lösen. Zur Besiegung der Schwierig¬
keiten in den letzten fünf großen Sonaten genügt keineswegs das eifrigste Studium der
zeitgenössischen Etudenwerke, z. B. Clemeutis und Czernys; die innigste Vertrautheit —
zunächst der Finger — mit dem Klavicrstile der neuen Meister Chopin, Schumann und
Liszt ist dazu uuerläßlich. Ich habe nur Beethoven genannt: inan denke nun einmal an
I. S. Bach! Ich spreche hier erst lediglich vom Technischen.
Ein Klavierspieler, der nur diese Vorbedingung erfüllt hat, ist nun noch eben so
wenig ein Virtuose zu nennen, wie derjenige als ein Komponist (Tondichter) zu bezeichnen
ist, der eine tüchtige Fuge zimmern, einen nach altem Muster regelrechten Sonatensatz