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schustern gelernt hat. Wenn das Material herbeigeschafft ist, zu allererst handelt es sich
doch darum, dann heißt es dasselbe künstlerisch verwerten. Erst Buchstabentreue, dann
Geistesreproduktion; denn der Buchstabe ist das Material, die äußere Erscheinung des
Geistes.
Hier kann ich die Aufgabe des Virtuosen in folgende zwei Hauptmomente zusammen¬
drängen. Seine erste Arbeit hat eine analytische, mehr wissenschaftliche zu sein: Dekom¬
position des Tonwerkes, wobei also vorzugsweise die Verstandestätigkeit in Anspruch
genommen wird. Die zweite ist eine synthetisch-künstlerische: Rekonstruktion des dekom-
ponierten Tonwerkes, wobei die Funktion der Phantasie, der bewußten individuellen
Empfindung, einzutreten hat. Hatte dort der Virtuose, wie ich ihn verstehe und allgemein
verstanden zu wissen wünschte, der sklavische Geisteseigene des Komponisten zu werden, so
ist hier — bei der Rekomposition, der eigentlichen Reproduktion — nun die Möglichkeit
geboten, die angelegte Fessel nicht etwa abzuschütteln, aber mit Leichtigkeit zu tragen, bis
zu einem gewissen Grade persönlich, individuell, subjektiv zu erscheinen. Diese Möglichkeit
ist nicht bloß geboten, sondern wer sie nicht benutzte, nicht zu benutzen vermöchte, sänke
trotz aller geistigen Anstrengung, die er im ersten Teile der Aufgabe geliefert, zur Maschine
herab und erwiese sich ungenügend zur Erfüllung seiner Aufgabe als Virtuose. Man
sagt von einem ganz untadelhaften Spieler: „er läßt kalt" — „es fehlt ihm jenes
undefinierbare „je ne sais quoi“". Wohlan, dieses je ne sais quoi, das ist eben —
nennen wirs nicht mit dem gedankenlosen Pöbel „Inspiration", sondern bei seinem wirk¬
lichen Namen — „Beredsamkeit" in der Sprache des Gefühls. Darin besteht eben das
Talent des ausübenden Künstlers, das bekanntlich „angeboren" sein muß, das Talent,
d. h. — um nochmals die profane Bibel zu zitieren — das Wort, die Tat, statt: die
Kraft, virtus, woher der Name stammt. Bei falscher, geheuchelter Beredsamkeit sprechen
wir den Tadel „Effekthascher" aus. Bei wirklicher Beredsamkeit könnte man sagen:
„Eindruckserwecker". Eindrücke, starke, innerlich tief ergreifende Eindrücke in der Seele
des Hörers zu wecken, das ist die Aufgabe und gleichzeitig der Lohn des reproduzierenden
Künstlers, der in seiner höchsten Vollendung dann dem Sinne des Wortes gemäß den
Beinamen Virtuose erhalten darf. Zunächst Knecht des Tondichters, des Schöpfers des
Was, steigt er durch seine Schöpfung des Wie dieses Was zum Range eines Freigelassenen,
zuweilen gar zu dem eines Mitbürgers des Komponisten empor. In diesem Sinne hat
sogar der allerdings bis aufs albernste übertriebene Gebrauch der Redensart seitens der
französischen Theaterkritik „eröer nn röle“ Berechtigung. Wilhelmine Schröder-Devrient
als Sängerin war eine solche schöpferische Virtuosin, Bogumil Dawison als Darsteller
z. B. des Hamlet, Othello oder Richard III. ist ein solcher schöpferischer Virtuose. Ich
bin fest überzeugt, daß er im Studium seiner Rollen eine ganz ähnliche Stufenleiter der
Arbeit befolgt, als ich im vorhergehenden dem Klaviervirtuosen für die Verdolmetschung
einer der letzten Sonaten von Beethoven zur Aufgabe gemacht habe. Doch beim Schau¬
spielervirtuosentum treten der Natur des Dramas nach noch andere Erfordernisse auf,
und ich überlasse die Erörterung kundigerer Feder. Nur gegen den Mißbrauch des
Ausdruckes Virtuose auch auf diesem Gebiete wollte ich protestieren, nachdem ich ange¬
deutet, was zu einem solchen in der Musik gehöre. Protestieren wollte ich, daß Leute
Virtuosen genannt werden, die nur zu heißen verdienen: Musikanten, Komödianten.