Full text: Lesebuch für Schlesien

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171 — 
„Der arme Junge hat sich totgefallen“ ruft mein Vater. „Und 
ihr, ihr Großen, seid dabei,“ — damit packt er meine Zwillingsbrüder — 
„laßt ihn klettern und wehrt ihm nicht; aber wartet!“ Und beide bekamen 
eine kleine Anzahlung auf ihre Backen, daß sie in höherem Rot erglühten. 
Just wie die Mäuse verschlichen sich die Buben in die Gärten und Häuser, 
und totenstill lag die Scheune da. 
4. Aber laute Klagen füllten die Stube. Leblos lag ich auf dem Schoße 
der Mutter, die vergeblich einen Blick aus meinen Augen suchte. In die 
Stube drängte sich neugierig und teilnehmend die ganze Nachbarschaft, 
und jedes gab gute Ratschläge. Der Vater tauchte einen Schwamm in 
warmen Birnessig und befeuchtete damit die Kinnwunde, die sich wie ein 
Nebenpförtchen zum Munde aufgetan hatte. Endlich geht ein schmerz— 
liches Zucken über mein Gesicht, ein Stöhnen ringt sich aus der Brust, die 
Augen öffnen und schließen sich. „Jetzt, jetzt! er kommt zu sich!“ geht es 
durcheinander. Starr hängen die Augen der Mutter an den Augen ihres 
Lieblings. Endlich gehen sie voll auf, und ich versuche, mich zu erheben. 
„Gottlob,“ seufzt die Mutter, „er lebt noch!“ Mit ihrer Hilfe richte ich 
mich auf und schaue mich verwundert um. Nun wird ein ordentlicher 
Verband angelegt, und munter sehe ich auf den Schwarm der Gäste. Die 
äußern noch allerlei Vermutungen, wie es hätte kommen können, empfehlen 
noch allerlei Mittel und ziehen dann ab. 
5. Der Großvater hat schon wieder sein Nähzeug genommen. Jetzt 
hebt er den Kopf und sieht nach mir; ich lache ihn fröhlich aus meinem 
weißen Gesichtswall von Watte und Leinen an. Er sagt kein Wort, steht 
auf, reckt den Arm nach dem Brettergesims über der Tür und zieht aus 
einem Versteck ein Röhrchen ans Licht, schwank und fest, und reicht es meinem 
Vater. „Er hat nicht gehorcht und muß seinen Denkzettel kriegen!“ sagt 
der Alte streng zu meinem Vater. 
Der Vater sah etwas unsicher bald nach der Mutter, bald nach dem 
Großvater. Dann sagte er zu mir: „Komm her! du mußt folgen lernen! 
Ich habe dir das Klettern auf der Gerüstleiter verboten.“ Ich klammerte 
mich angstvoll an die Mutter. „Ist das nicht Denkzettel genug?“ sagte 
sie leise zu dem Vater und dann zu dem Großvater; aber dieser schüttelte 
mit dem Kopfe. „Gib ihn her!“ sagte mein Vater, „lieber ein totes als 
ein verzogenes Kind! Entweder lernt er pünktlich aufs Wort folgen, oder 
es ist sein Unglück.“ Schmerz im Gesichte, aber ohne Widerrede ließ mich 
die Mutter vom Schoße gleiten. Dreimal pfiff das Röhrchen nieder; leise 
wimmerte ich, dann nahm mich die Mutter wieder auf. „Nun sollen die 
Großen ihren Macherlohn kriegen!“ fuhr mein Vater fort. Aus einer
	        
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