464
„Wie heisst die Burg dort,“ fragte ich meinen Begleiter,
„ welche nur einige hundert Schritte von hier auf dem
Gipfel jenes Hügels steht?“ — „Das ist die Davidsburg auf
Zion,“ sagte eintönig der Führer. Hier hat der Mann
gewohnt, der grösste seiner Zeit, der ein Prophet war, ein
Dichter und ein König. Von hier aus konnte er Jerusalem
beschauen und ungestört des Flusses strömende Welle, das
stille, grünende Thal, die Terebinthen und Olivenbäume
betrachten, wie sie die Häupter der Hügel schmücken.
Gegen Südosten liegen vor dem Auge des Beschauers das
Thal Josaphat, die Moschee auf Moriah und weiterhin der
Kessel des toten Meeres. — Kein Anblick vermag die Seele
mit so trüben Gedanken zu erfüllen wie das Thal Josaphat,
ein enges Thal zwischen zwei Hügeln, von denen einer den
Ölberg, der andere die Stadt Jerusalem auf seiner Höhe
trägt, von dem fast wasserlosen Cedron durchschlichen.
Niemals scheint die Sonne in die düstere Tiefe. Des
Morgens verbirgt sie sich hinter dem Ölberg und des Nach¬
mittags hinter Moriah. Es ist das Thal der Schatten und
der Gräber; und wer über die Brücke geht, die dort über
den Cedron führt, wird von unwillkürlichem Schaudern er¬
griffen. Rechts von der Brücke befinden sich die Gräber
des Absalon, des Josaphat und des Zacharias. Betende
liegen in der Nähe dieser Gräber auf dem Boden hinge¬
streckt, und eine Masse aufgeschichteter Steine vermehrt
das Traurige dieser Stätte.
„Dort im Osten,“ sagte der Führer zu mir, „sehen Sie
Bethanien und den Ölberg.“ — Nächst Bethlehem ist
Bethanien gewife das lieblichste Dörflein, und teure Er¬
innerungen knüpfen sich an diese Stätte. Hier hat Lazarus
gewohnt mit Maria und Martha; in ihrem Kreise hat Jesus
ausgeruht von der heiligen Arbeit, um neue Kräfte zu
sammeln zur Ausführung seines schweren Berufes; hier hat
der aus Jerusalem Verstofsene ein Obdach, der Heimatlose
eine Heimat, der von seinem Volke Verachtete Liebe und
Ehre gefunden. Bethanien möchte ich den Ort der stillen
Liebe nennen. Es ist so einsam, so traulich an den Berg
gebaut, rings von schattigen Bäumen, von grünenden Fel¬
dern umgeben, dafe man Wohnung darin machen möchte,
umgeben von geliebten Herzen. Lange ruhte mein Blick
auf Bethanien, der Heimat derer, welche der Herr so lieb
hatte, und meine Seele war bewegt von unbeschreiblicher
Rührung. — Mit Bethanien übersieht das Auge den Ölberg.