Full text: Lesebuch für die Oberklassen katholischer Volksschulen

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„Wie heisst die Burg dort,“ fragte ich meinen Begleiter, 
„ welche nur einige hundert Schritte von hier auf dem 
Gipfel jenes Hügels steht?“ — „Das ist die Davidsburg auf 
Zion,“ sagte eintönig der Führer. Hier hat der Mann 
gewohnt, der grösste seiner Zeit, der ein Prophet war, ein 
Dichter und ein König. Von hier aus konnte er Jerusalem 
beschauen und ungestört des Flusses strömende Welle, das 
stille, grünende Thal, die Terebinthen und Olivenbäume 
betrachten, wie sie die Häupter der Hügel schmücken. 
Gegen Südosten liegen vor dem Auge des Beschauers das 
Thal Josaphat, die Moschee auf Moriah und weiterhin der 
Kessel des toten Meeres. — Kein Anblick vermag die Seele 
mit so trüben Gedanken zu erfüllen wie das Thal Josaphat, 
ein enges Thal zwischen zwei Hügeln, von denen einer den 
Ölberg, der andere die Stadt Jerusalem auf seiner Höhe 
trägt, von dem fast wasserlosen Cedron durchschlichen. 
Niemals scheint die Sonne in die düstere Tiefe. Des 
Morgens verbirgt sie sich hinter dem Ölberg und des Nach¬ 
mittags hinter Moriah. Es ist das Thal der Schatten und 
der Gräber; und wer über die Brücke geht, die dort über 
den Cedron führt, wird von unwillkürlichem Schaudern er¬ 
griffen. Rechts von der Brücke befinden sich die Gräber 
des Absalon, des Josaphat und des Zacharias. Betende 
liegen in der Nähe dieser Gräber auf dem Boden hinge¬ 
streckt, und eine Masse aufgeschichteter Steine vermehrt 
das Traurige dieser Stätte. 
„Dort im Osten,“ sagte der Führer zu mir, „sehen Sie 
Bethanien und den Ölberg.“ — Nächst Bethlehem ist 
Bethanien gewife das lieblichste Dörflein, und teure Er¬ 
innerungen knüpfen sich an diese Stätte. Hier hat Lazarus 
gewohnt mit Maria und Martha; in ihrem Kreise hat Jesus 
ausgeruht von der heiligen Arbeit, um neue Kräfte zu 
sammeln zur Ausführung seines schweren Berufes; hier hat 
der aus Jerusalem Verstofsene ein Obdach, der Heimatlose 
eine Heimat, der von seinem Volke Verachtete Liebe und 
Ehre gefunden. Bethanien möchte ich den Ort der stillen 
Liebe nennen. Es ist so einsam, so traulich an den Berg 
gebaut, rings von schattigen Bäumen, von grünenden Fel¬ 
dern umgeben, dafe man Wohnung darin machen möchte, 
umgeben von geliebten Herzen. Lange ruhte mein Blick 
auf Bethanien, der Heimat derer, welche der Herr so lieb 
hatte, und meine Seele war bewegt von unbeschreiblicher 
Rührung. — Mit Bethanien übersieht das Auge den Ölberg.
	        
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