Full text: [Cursus 2, [Schülerband]] (Cursus 2, [Schülerband])

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eine leise Trauer ihr Wesen zu einer sanften Schwermuth stimmte. 
Schmerzhaft traf es sie, wenn der Vater oder ihr Mann von den 
Zigeunern und Schelmen sprachen, die im finstern Grunde wohnten. Oft 
wollte sie sie vertheidigen, die sie als die Wohlthäter der Gegend kannte, 
vorzüglich gegen Andres, der eine Lust im eifrigen Schelten zu finden 
schien; aber sie zwang das Wort jedesmal in ihre Brust zurück. So 
verlebte sie das Jahr, und im folgenden ward sie durch eine junge 
Tochter erfreut, welche sie Elfriede nannte, indem sie dabei an den 
Namen der Elfen dachte. 
Die jungen Leute wohnten mit Martin und Brigitte in demselben 
Hause, welches geräumig genug war, und halfen den Eltern die aus¬ 
gebreitete Wirthschaft führen. Die kleine Elfriede zeigte bald besondere 
Fähigkeiten und Anlagen; denn sie lief sehr früh und konnte Alles 
sprechen, als sie noch kein Jahr alt war; nach einigen Jahren aber war 
sie so klug und sinnig und von so wunderbarer Schönheit, daß alle 
Menschen sie mit Erstaunen betrachteten, und ihre Mutter sich nicht der 
Meinung erwehren konnte, sie sehe jenen glänzenden Kindern im Tannen- 
grnnde ähnlich. Elfriede hielt sich nicht gern zu andern Kindern, sondern 
vermied bis zur Aengstlichkeit ihre geräuschvollen Spiele und war ani 
liebsten allein. Dann zog sie sich in eine Ecke des Gartens zurück und 
las, oder arbeitete eifrig am kleinen Nähzeuge; oft sah man sie auch wie 
tief in sich versunken sitzen, oder in Gängen heftig auf- und niedergehen 
und mit sich selber sprechen. Die beiden Eltern ließen sie gern gewähren, 
weil sie gesund war und gedieh; nur machten sie die seltsamen, verstän¬ 
digen Antworten und Bemerkungen oft besorgt. „So kluge Kinder," 
sagte die Großmutter Brigitte vielmals, „werden nicht alt; sie sind zu 
gut für diese Welt; auch ist das Kind über die Natur schön und wird 
sich auf Erden nicht zurechtfinden können." 
Die Kleine hatte die Eigenschaft, daß sie sich höchst ungern von 
Anderen bedienen ließ. Alles wollte sie selber machen. Sie war fast immer 
am frühesten auf int Hause und wusch sich sorgfältig und kleidete sich 
selber an. Eben so sorgsam war sie am Abend; sie unterließ nie, Kleider 
und Wäsche selbst einzupacken, und ließ durchaus Niemanden, auch die 
Mutter nicht, über ihre Sachen. Die Mutter sah ihr in dieser Eigenheit 
nach, weil sie sich Nichts weiter dabei dachte; aber wie erstaunte sie, als 
sie sie an einem Feiertage zu einem Besuche auf dem Schlosse mit Gewalt 
umkleidete, so sehr sich auch die Kleine mit Geschrei und Thränen dagegen 
wehrte, und an ihrer Brust, an einem Faden hangend, ein Goldstück 
von seltsamer Form antraf, welches sie sogleich für eins von jenen 
erkannte, deren sie so viele in dem unterirdischen Gewölbe gesehen hatte. 
Die Kleine war sehr erschrocken und gestand endlich, sie habe es im 
Garten gefunden, und da es ihr sehr Wohlgefallen, habe sie es so emsig 
aufbewahrt; sie bat auch so dringend und herzlich, es ihr zu lassen, 
daß Marie es Widder auf derselben Stelle befestigte und voller Gedanken 
mit ihr stillschweigend zum Schlosse hinauf ging. 
Seitwärts vom Hause der Pachterfamilie lagen einige Wirthschafts¬ 
gebäude zur Aufbewahrung der Früchte und des Feldgeräths, und hinter 
diesen befand sich ein Grasplatz mit einer alten Laube, die aber kein 
Mensch jetzt besuchte, weil sie nach der neuen Einrichtung der Gebäude 
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