Full text: Charakterbilder deutschen Landes und Lebens für Schule und Haus (Theil 3)

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segnungen solche zu liefern haben. Seit zwanzig Jahren hat sich der 
Preis einer magern lebendigen Gans fast um zwei Drittel erhöht. Nächst 
den Dorfhunden, welche einen Knüttel zwischen den Beinen führen, wird 
man von diesen Gänsen zuerst in den Dörfern begrüßt, und im Früh- 
jähr, wo die Zuchtgänse mit ihren Gänschen auf der Dorfstraße sich 
aufhalten, sieht man um diese zugleich die ganze kleine Dorfjugend ver- 
sammelt, die mit den älteren Geschwistern die junge Brut bewachen 
müssen. Die kleinen Kinder kriechen oft ohne Strümpfe mit einem kleinen 
Unterrocke auf dem Boden herum, aber die rothen Backen beweisen, daß 
Abhärtung gegen die Einflüsse der Witterung von Jugend auf geübt 
wird. Mancher dieser Flachsköpfe kriecht auf allen Vieren umher, und 
der Blick zeigt nicht selten an, daß Vater und Mutter noch nicht Zeit 
gehabt haben, den Geist durch Fragen, Vorsprechen ?c. zu beschäftigen. 
Der Sand ist das Hauptspielwerk dieser Kinder, indem sie allerlei Figu- 
ren bilden, bis allmählich der Schulmeister sie mit dem Katechismus, dem 
Tafelrechnen und Schreiben bekannt macht. In der Kirschen ernte fanden 
wir einst die ganze Dorfjugend am Abend um die gefüllten Körbe stehen, 
die sie für den Gutsbesitzer hatten pflücken müssen. Die Backen und der 
Mund waren vollständig mit Kirschsaft geröthet, so daß man leicht be- 
nierken konnte, welchen Festtag die Kinder gefeiert hatten. Die ältern 
Kinder bis zum vierzehnten Jahre müssen die kleineren warten und 
beaufsichtigen und sonstige Dienste verrichten. Nicht selten sahen wir die 
Kinder einer Familie im Walde dürres Holz lesen, das dann auf einer 
Karre mit Mühe nach Hause gebracht wurde. Solch' ein Dorfjunge von 
acht Jahren wirft meist einen Stadtknaben, der vier, sechs Jahre älter 
ist; Arbeit ist sein frühes Loos; sieht man aber den Lehrapparat manches 
Schulhauses, ein zerbrochenes Federmesser, eine vergelbte Karte von Pa- 
lästina, nebst einigen frisch geschnittenen Haselstöcken, so macht man bald 
den Schluß, welche Stärke der Geist erhalten muß. 
Das Aeußere der pommerschen Dörfer ist nach dem Wohlstande, 
nach der Ackerfläche verschieden. Am meisten fallen die Güter mit ihren 
großen Wirtschaftsgebäuden, dem Brennereischornsteine, dem Herren- 
hause in die Augen, die kleinen Tagelöhnerwohnungen heben den Eon- 
irast. Bei der großen Linnensabrication findet man an jedem Dorfe 
Bleichen, deren weiße Streifen im grünen Grase am Wasser sich malerisch 
ausnehmen. In Vorpommern fällt es namentlich unangenehm auf, daß 
der größere Grundbesitz den bäuerlichen immer mehr verschlungen hat. 
Wo Gutsbesitzer und Bauern in einem Dorfe wohnen, da endete in 
vielen Dörfern das nachbarliche Zusammenwohnen damit, daß die Bauern- 
Höfe in die Hände des Gutsbesitzers übergingen und die Nachkommen 
ihrer früheren Besitzer als Arbeitsleute in freier Leibeigenschaft zum Hof- 
dienste verpflichtet sind. In Vorpommern fanden wir diese Vernichtung 
des Bauernstandes am weitesten ausgeführt, in Hinterpommern an- 
nähernd.
	        
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