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werk gezierten Erkerchen, die frei und keck von den hohen Ziegeldächern
herabschauen, zuweilen auch durch malerische, kühn aufstrebende Eckthürmchen
der einzelnen „Ansichten" jene reiche Gliederung, die so anziehend wirkt.
Zugleich gewähren sie ein Bild der Dauerhaftigkeit; denn die tief einge-
schnittenen Fenster, bei denen übrigens der Spitzbogen nur selten auf-
tritt, lassen die Festigkeit der meist aus rechlichem Sandsteine aufgeführten
Mauern erkennen. Innerhalb dieser Mauern aber finden sich reichverzierte
Treppenhäuser und Gallerien, kunstvoll geschnitztes Täfelwerk und kostbare
Wand- und Deckengemälde als beredte Zeugen des Reichthums und Kunst-
finns der alten Patricier.
Die Häusergruppirung gewinnt ferner wesentlich an Reiz durch das
hügelige Terrain, auf welchem Nürnberg aufgeführt ist; nicht minder durch
die die Stadt in zwei Hälften theilende Pegnitz, die zwar an sich ziemlich
reizlos ist, aber durch die vielen über sie führenden Brücken und Stege
ausgezeichnete Standpunkte für die Betrachtung mittelalterlicher Bauten
bietet. Unter den Brücken zeichnet sich die nach dem Muster des Ponte
Rialto in Venedig erbaute Fleischbrücke aus, die in einem Bogen von
971/2 Fuß Weite über den Fluß gesprengt ist. Ein an ihrem nördlichen
Ende über dem Eingang zum Schlachthause ruhender steinerner Ochse,
ein Wahrzeichen der Stadt, erinnert an den sprichwörtlich gewordenen
Nürnberger Witz; eine lateinische Inschrift besagt nämlich, daß er nie
ein Kalb war.
Die Straßen, Plätze und Privathäuser bilden gewissermaßen nur
die Fassung jener Edelsteine deutscher Kunst, welche Nürnberg in seinen
öffentlichen Denkmälern, seinen schönen gothischen Kirchen, seinen zahl-
reichen und vielgestaltigen Brunnen besitzt.
Das hervorragendste Bauwerk der Stadt, die Lorenzkirch e, ist zu-
gleich eines der bedeutendsten in Deutschland, und obschon sich dieselbe mit
dem Straßburger Münster oder dem Kölner Dom weder in Bezug auf
Großartigkeit der Anlage noch in Hinsicht auf Feinheit und Reichhaltigkeit
der architektonischen Ausschmückung messen kann, so hat sie doch selbst
vor diesen ersten Meisterwerken deutscher Kunst die beiden Vorzüge, daß
ihre ganze Umgebung sich mit ihr zu einem harmonischen Bilde vereinigt,
und daß sie in ihrem Inneren Schätze birgt, die wir anderwärts ver-
geblich suchen. Durch zwei Jahrhunderte hindurch wurde an dem Bau
gearbeitet; denn die Kosten mußten „aus dem Almosen guter Leute"
bestritten werden, und es wundert uns, daß die Einheit des Stiles nicht
darunter litt; der nördliche Thurm stammt aus dem Jahre 1278*),
mit dem südlichen wurde 1477 das ganze Werk vollendet. Die Kirche hat
eine Länge von 312 und eine Breite von 82 Fuß; das von 26 Säulen
getragene Mittelschiff ist 76 Fuß hoch. Die beiden Thürme, deren Höhe
*) Er brannte am (>. Jan. 1865 bis zum Kran; herunter ab, wurde aber gan;
in seiner ursprünglichen Gestalt, nur mit eisernem Gerippe, wieder hergestellt.