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Hermann Schumacher 
worden. Mitte der siebziger Jahre des H.9. Jahrhunderts ist dieser tief¬ 
greifende Umschwung eingetreten, der kurz dahin gekennzeichnet werden 
kann: bisher waren Massenartikel, wie Getreide, nur transportfähig in 
Europa, und jetzt werden sie es, mit der Vervollkommnung der Seedampf¬ 
schiffahrt und dem Ausbau der Eisenbahnen, insbesondere auch in über¬ 
seeischen Gebieten, für die ganze Welt. Der Getreidehandel greift jetzt von 
Europa und seinen Rüstenmeeren hinüber auf die Ozeane und die dünn¬ 
besiedelten frenrden Erdteile mit ihrem billigen Boden und ihrer extensiven 
Kultur. Damit werden in Europa Getreideverbrauch und Getreideerzeugung 
von Grund aus umgestaltet. Solange England auf das Getreide Osteuropas 
angewiesen war, hatte es als das Land der stärksten Nachfrage nach fremdenr 
Getreide die höchsten Getreidepreise, und jede Transportverbilligung be¬ 
deutete eine Gewinnsteigerung für die Produktionsgebiete. Es war natür¬ 
lich, daß in dieser Zeit die Vertreter der blühenden ostdeutschen Landwirt¬ 
schaft als Ausfuhrinteressenten auch Freihändler waren. Seit Mitte der 
siebziger Zahre ermöglicht die fortschreitende Verbilligung der transatlanti¬ 
schen Frachten es den schnell wachsenden Scharen von Siedlern in den ver¬ 
einigten Staaten, ihre mit wenig Kapital und Arbeit hervorgebrachten Er¬ 
zeugnisse des bisher ungenutzten und daher billigen und fruchtbaren Bodens 
mit Gewinn auf den europäischen Markt zu bringen. Das Land der stärksten 
Getreidenachfrage wird damit imnrer mehr zum Lande des stärksten Getreide¬ 
angebots und unter dem zunehmenden Wettbewerbe der sich mehrenden 
Getreideausfuhrländer tritt an die Stelle des osteuropäischen verkaufs- 
inonopols eine Art englischen Kaufnronopols. So wird England in jähem 
Umschwung aus dem Lande der höchsten zum Lande der niedrigsten Ge¬ 
treidepreise, und alle Transportverbilligungen kommen hinfort den europäi¬ 
schen Verbrauchern, nicht mehr den Erzeugern zugute. Die Getreideerzeuger, 
die bisher, im wirksamen Schutze der hohen überseeischen Transportkosten, 
nur den milden Wettbewerb mit naheliegenden und gleichartigen Gebieten 
zu bestehen hatten, verlieren jetzt diesen so lange genossenen Frachtenschutz 
und müssen sich mit fernen Ländern mit ganz andersartigen Produktions- 
bedingungen messen. Ein neuer Gleichgewichtszustand zwischen Angebot 
und Nachfrage mußte damit geschaffen werden. Das war nur möglich ent¬ 
weder durch Beseitigung des Produktionsunterschieds zwischen den neu 
in Wettbewerb miteinander gebrachten Getreidegebieten oder durch Ersatz 
des bisher natürlich sich ergebenden Frachtenschutzes durch einen künst¬ 
lichen neuen Schutz. Den ersten Weg hat England, den zweiten Deutschland 
und mit ihm fast das ganze europäische Festland beschritten. 
Da man die überseeischen Gebiete nicht in der Intensität ihrer Land¬ 
wirtschaft zu heben vermochte, war eine Gleichstellung in den Produktions¬ 
ländern nur dadurch zu erreichen, daß man in Europa zu dem extensiven 
Betrieb überging, den der amerikanische Getreidebau aufwies. Solche 
Extenfivierung bedeutet eine Minderung des Rohertrags zugunsten des 
Reinertrags, der volkswirtschaftlichen Produktivität zugunsten der privat¬ 
wirtschaftlichen Rentabilität und muß eine verringerte Möglichkeit der. 
Verwendung von Arbeitskräften, also eine verstärkte Entvölkerung des
	        
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