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ist, Andres, und unser liebster Wunsch hat uns oft betrogen! 
Und also muß man nicht auf seinem Stück stehen, sondern blöde 
und discret*) sein und dem lieber Alles mit anheimstellen, der's 
besser weiß als wir. 
Ob nun das Gebet einer bewegten Seele etwas vermag und 
wirken kann, oder ob der l>l6xu8 Rerum2) dergleichen nicht ge¬ 
stattet, wie einige Herren Gelehrte meinen, darüber lasse ich mich 
in keinen Streit ein. Ich hab' allen Respekt für den I§6xu8 Kerum, 
kann aber doch nicht umhin, dabei an Simson zu denken, der 
den i^6xu8 der Thorflügel unbeschädigt ließ und bekanntlich das 
ganze Thor auf den Berg trug. Und kurz. Andres, ich glaube, 
daß der Regen wohl kömmt, wenn es dürre ist, und daß der 
Hirsch nicht umsonst nach frischem Wasser schreit, wenn Einer nur 
recht betet und recht gesinnt ist. 
Das „Vater unser" ist Ein für allemal das beste Gebet, 
denn Du weißt, wer's gemacht hat. Aber kein Mensch auf Gottes 
Erdboden kann's so nachbeten, wie der's gemeint hat; wir krüp- 
peln es nur von Ferne Einer immer armseliger als der Andere. 
Das schadet aber nicht, Andres, wenn wir's nur gut meinen; 
der liebe Gott muß so immer das Beste thun, und der weiß, 
wie's sein soll. Weil Du's verlangst, will ich Dir aufrichtig 
sagen, wie ich's mit dem „Vater unser" mache. Ich denke aber, 
's ist so nur sehr armselig gemacht, und ich möchte mich gerne 
eines Bessern belehren lassen. 
Sieh', wenn ich's beten will, so denk' ich erst an meinen 
seligen Vater, wie der so gut war und mir so gerne geben mochte. 
Und denn stell' ich mir die ganze Welt als meines Vaters Haus 
vor; und alle Menschen in Europa, Asia, Afrika und-Amerika 
sind denn in meinen Gedanken meine Brüder und Schwestern; 
und Gott sitzet im Himmel auf einem goldenen Stuhl und hat 
seine rechte Hand über's Meer und bis an's Ende der Welt aus¬ 
gestreckt und seine Linke voll Heil und Gutes, und die Bergspitzen 
umher rauchen — und dann fang' ich an: 
Vater Unser, der du bist im Himmel. 
Geheiliget werde Dein Name. 
Das versteh' ich nun schon nicht. Die Juden sollen beson¬ 
dere Heimlichkeiten von dem Namen Gottes gewußt haben. Das 
lasse ich aber gut sein, und wünsche nur, daß das Andenken an 
Gott und eine jede Spur, daraus wir ihn erkennen können, mir 
und allen Menschen über Alles groß und heilig sein möge. 
Zu uns komme Dein Reich. 
Hiebei denk' ich an mich selbst, wie's in mir hin und her 
treibt, und bald dies bald das regiert, und daß das Alles Herz- 
*) zurückhaltend, bescheiden. — 2) Zusammenhang der Dinge. 
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