Full text: Dr. K. von Spruner's historisch-geographischer Schul-Atlas

12 
„Du bist ein braves Kind, das mit armen und alten Leuten Mitleid 
hat, und dafür will ich dich belohnen. Nimm dieses Birkenreis und bewahre 
es gut, denn es wird dir goldene Früchte tragen." — Mit diesen Worten 
gab sie ihm das Reis und war ins Haus verschwunden. 
Ter Kleine mußte über das Geschenk beinahe lachen, doch behielt er 
den Zweig und eilte in den Wald zu seinem Holzbündel zurück. Er nahm 
es wieder auf den Kopf, trug die Gerte in der rechten Hand und wanderte 
durch den Wald. Da war er aber gar bald matt und müde, daß ihm die 
Augen zufielen und er sich dachte: „Ich will ein wenig rasten und schlafen, 
denn so geht das Fuhrwerk nimmer weiter." Gesagt, getan. Er legte das 
Bündlein ab, steckte das Birkenreis in die Erde, streckte sich dabei in das 
weiche Moos und sing an gar süß und sanft zu schlummern. Als die Sonne 
sich neigte und die Abendluft durch den grünen Wald zog, erwachte der 
Junge erst aus seinen schönen Träumen und rieb sich den schweren Schlaf 
aus den blauen Augen. Sein erster Blick war auf das Holzbündel, sein 
zweiter auf das kostbare Birkenreis geworfen; doch wie groß war sein Er¬ 
staunen, als er an der Stelle des Zweiges einen stolzen Baum sah, an dem 
goldene und silberne Blätter und Früchte um die Wette flimmerten und 
glänzten. Ein Schrei der Freude entrang sich seiner Kehle und jubelnd sprang 
er zum Wunderbaume und begann Blätter und Äpfel abzupflücken und in 
seinen Sack zu stecken. Als er ganz erfüllt und so schwer war, daß er genug 
zu tragen hatte, nahm Sepp vom Walde und seinem Bündel Abschied und 
eilte der Heimat zu. Die Mutter hatte indessen mit Bangen und Sehnen 
auf den lange wegbleibenden Knaben geharrt und besorgte ein Unglück. Wie 
groß war ihre Freude nun, als sie ihren Sohn in die Hütte treten sah 
und ihn jubeln hörte. Doch wie sie ihn ohne Holz und Reisig sah, wurde 
sie böse und sprach: „Wo hast du dich den ganzen Tag herumgetrieben? Ich 
habe dich am frühen Morgen um Holz in den Wald hinausgeschickt und jetzt 
ist es später Abend und du kommst ohne ein Scheitlein zurück." 
„Sei nicht böse, liebes Mütterchen," fiel nun beschwichtigend der Knabe 
ein, „ich habe wacker gearbeitet und du sollst mit mir zufrieden sein." 
Bei diesen Worten schüttelte er die silbernen und goldenen Blätter und 
Früchte auf den runden Tisch heraus und die Schätze funkelten und glänzten, 
daß der Mutter fast das Sehen verging. „Woher hast du -dieses goldene 
Zeug?" fragte besorgt die Mutter; denn sie fürchtete, der Schatz könnte nicht 
auf rechtem Wege erworben sein. 
„Ich habe das alles im Walde verdient," jubelte der Junge auf und 
blickte mit freudetrunkenen Augen die erstaunte glückliche Mutter an. Er er¬ 
zählte ihr nun die Geschichte vom alten Weiblein und vom goldtragenden 
Baume. Die Mutter war nun beruhigt und hoch erfreut und seit diesem 
Tage litten beide keinen Mangel mehr, sondern waren reiche Leute. 
I. V. Zingerle.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.