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„Du bist ein braves Kind, das mit armen und alten Leuten Mitleid
hat, und dafür will ich dich belohnen. Nimm dieses Birkenreis und bewahre
es gut, denn es wird dir goldene Früchte tragen." — Mit diesen Worten
gab sie ihm das Reis und war ins Haus verschwunden.
Ter Kleine mußte über das Geschenk beinahe lachen, doch behielt er
den Zweig und eilte in den Wald zu seinem Holzbündel zurück. Er nahm
es wieder auf den Kopf, trug die Gerte in der rechten Hand und wanderte
durch den Wald. Da war er aber gar bald matt und müde, daß ihm die
Augen zufielen und er sich dachte: „Ich will ein wenig rasten und schlafen,
denn so geht das Fuhrwerk nimmer weiter." Gesagt, getan. Er legte das
Bündlein ab, steckte das Birkenreis in die Erde, streckte sich dabei in das
weiche Moos und sing an gar süß und sanft zu schlummern. Als die Sonne
sich neigte und die Abendluft durch den grünen Wald zog, erwachte der
Junge erst aus seinen schönen Träumen und rieb sich den schweren Schlaf
aus den blauen Augen. Sein erster Blick war auf das Holzbündel, sein
zweiter auf das kostbare Birkenreis geworfen; doch wie groß war sein Er¬
staunen, als er an der Stelle des Zweiges einen stolzen Baum sah, an dem
goldene und silberne Blätter und Früchte um die Wette flimmerten und
glänzten. Ein Schrei der Freude entrang sich seiner Kehle und jubelnd sprang
er zum Wunderbaume und begann Blätter und Äpfel abzupflücken und in
seinen Sack zu stecken. Als er ganz erfüllt und so schwer war, daß er genug
zu tragen hatte, nahm Sepp vom Walde und seinem Bündel Abschied und
eilte der Heimat zu. Die Mutter hatte indessen mit Bangen und Sehnen
auf den lange wegbleibenden Knaben geharrt und besorgte ein Unglück. Wie
groß war ihre Freude nun, als sie ihren Sohn in die Hütte treten sah
und ihn jubeln hörte. Doch wie sie ihn ohne Holz und Reisig sah, wurde
sie böse und sprach: „Wo hast du dich den ganzen Tag herumgetrieben? Ich
habe dich am frühen Morgen um Holz in den Wald hinausgeschickt und jetzt
ist es später Abend und du kommst ohne ein Scheitlein zurück."
„Sei nicht böse, liebes Mütterchen," fiel nun beschwichtigend der Knabe
ein, „ich habe wacker gearbeitet und du sollst mit mir zufrieden sein."
Bei diesen Worten schüttelte er die silbernen und goldenen Blätter und
Früchte auf den runden Tisch heraus und die Schätze funkelten und glänzten,
daß der Mutter fast das Sehen verging. „Woher hast du -dieses goldene
Zeug?" fragte besorgt die Mutter; denn sie fürchtete, der Schatz könnte nicht
auf rechtem Wege erworben sein.
„Ich habe das alles im Walde verdient," jubelte der Junge auf und
blickte mit freudetrunkenen Augen die erstaunte glückliche Mutter an. Er er¬
zählte ihr nun die Geschichte vom alten Weiblein und vom goldtragenden
Baume. Die Mutter war nun beruhigt und hoch erfreut und seit diesem
Tage litten beide keinen Mangel mehr, sondern waren reiche Leute.
I. V. Zingerle.