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Müde bort meiner nächtlichen Wandernng setzte ich mich ans die be¬ 
mooste Wnrzel einer alten, vielhundertjährigen Eiche dicht am Wege und 
starrte hinaus in die schrankenlose Finsternis. Ich sah keinen Himmel und 
keine Erde, keinen Berg, keinen Fluß, kein Tal, nur das rabenschwarze, 
gestaltlose Dunkel dieser sternlosen Nacht. Doch wo Gott ist, da ist keine 
Nacht; es gibt aber eine andere Nacht, die allein den Namen der Nacht ver¬ 
dient: wenn der Mensch sich allem höhern, himmlischen Lichte verschließt, 
wenn er ohne Glauben, ohne Liebe, ohne Hofsnung mit verstocktem, erstarrtem 
Herzen in dem Kerker kalter Trostlosigkeit seinem Tode entgegensieht. 
So denkend versank ich allgemach in nebelhafte Träume, aus denen 
mich kein Laut aufweckte. 
Während ich also halb wachte halb träumte, wichen die Nebel vor 
dem Hauche des Morgenwindes; die Sterne blickten scheidend wie aus über¬ 
wachten Augen mit erbleichendem Lichte träumerisch ans die schlummernde 
Erde hernieder. Der Himmel hellte sich ans gleich einer Seele, in welcher 
der Funke göttlicher Liebe wieder erwacht. Der Tag begann im Osten zu 
grauen. Nun regte sich auch das erste Leben im Walde: hier schüttelte ein 
Vogel sein Gefieder ans dem Neste; dort und da ließ sich eine einzelne Stimme, 
ein abgebrochener Pfiff von einem Baume oder ans einem Busche vernehmen 
wie Instrumente vor dem Beginne eines Konzertes; in der Tiefe des Tales, 
im Dorfe und auf den zerstreuten Höfen begannen nun auch die §eroibe der 
Frühe, die Hähne, einander den Morgen zuzukrähen, erst mit leiserer Stimme, 
dann immer Heller und durchdringender; die Hunde wechselten mit ihnen ab, 
jetzt bellte nur einer, dann mehrere, dann wurde wieder alles still. 
Immer pnrpurglänzender wurden die leichten Wolken im Osten; der 
ganze Himmel wandelte sich in ein weites, schattenloses Lichtmeer um. Schon 
erglänzten, vorschanenden, gotterleuchteten Propheten gleich, von den ersten 
Strahlen beschienen, die Gipfel der höhern Berge und die Wipfel ihrer 
Wälder; erwartungsvoll aber harrte noch die Erde, sich langsam den Armen 
des Schlummers entwindend, dem Morgen entgegen. Da endlich erschien sie, 
die Königin des Tages, die Sonne, groß und klar in herrlich strahlender 
Majestät, langsam am Saume des Himmels emporsteigend. Und sieh, kaum 
war sie sichtbar, da spiegelte sich schon ihr leuchtendes Bild in tausend und 
tausend Tautropfen ent den Blättchen des Waldes, an den Blumenkelchen 
der Wiese, in jeder zitternden Welle des Flusses. Über alles verbreitete sie 
ihren heitern Glanz, alles erquickte sie mit ihrer lebenweckenden Wärme, 
alles streckte ihr sehnsuchtsvoll die Arme entgegen und erschloß sein Herz 
durstig ihrem milden Strahle. 
Ein rosiger Dust übergoß bald das ganze Tal und Wiese und Wald 
und aus dem Dufte stieg eine Lerche himmelan, höher und höher, über den 
goldenen Gipfel des Berges hinäns in das reine Blau des Morgenhimmels. 
Dort schwebte sie mit blitzenden und zitternden Schwingen wie ein singender 
goldener Stern und jubilierte in den hellsten, reinsten Tönen, als sei sie vom 
Tale gesendet, dem Schöpfer den Dank der Erde darzubringen und ihn für 
seine Sonne, diese Verkünderin seiner väterlichen Liebe, zu preisen. 
Guido Görres.
	        
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