Full text: [Teil 3 = (4. Schuljahr), [Schülerband]] (Teil 3 = (4. Schuljahr), [Schülerband])

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Orten, bei der schweigenden öde eurer Gefilde: Gebt sie mir wieder, die 
traute Gattin; laßt sie frei und schenkt ihr das allzufrüh verblühte Leben 
von neuem! Aber kann es nicht sein, so nehmet auch mich unter die 
Toten auf! Nimmer kehr' ich ohne sie zurück.“ Also sang er und rührte mit 
den Fingern die Saiten. Siehe, da horchten die blutlosen Schatten und 
weinten. Der unselige Tantalus haschte nicht mehr nach den entschlüpfen— 
den Wassern, Ixions sausendes Rad stand still, die Töchter des Danaus 
ließen ab vom vergeblichen Mühen und lehnten horchend an der Urne, 
Sisyphus selbst vergaß seiner Qual und setzte sich auf den tückischen Fels— 
block, den sanften Klagetönen zu lauschen. Damals, so sagt man, rannen 
selbst von den Wangen der furchtbaren Eumeniden Tränen hernieder, und 
das düstere Herrscherpaar fühlte sich zum erstenmal von Mitleid bewegt. 
Persephone rief den Schatten Eurydices, der unsicheren Schrittes herankam. 
„Nimm sie mit dir,“ sprach die Totenkönigin; „aber wisse: nur wenn du 
keinen Blick auf die Folgende wirfst, ehe du das Tor der Unterwelt durch— 
schritten, nur dann gehört sie dir; doch schaust du dich zu frühe nach ihr 
um, so wird dir die Gnade entzogen.“ 
Schweigend und schnellen Schrittes klommen nun die beiden den 
finstern Weg empor, vom Grauen der Nacht umgeben. Da ward Orpheus 
von unsäglicher Sehnsucht ergriffen; er lauschte, ob er nicht den Atemzug 
der Geliebten oder das Rauschen ihres Gewandes hörte — aber still, toten— 
still war alles um ihn her. Von Angst und Liebe überwältigt, seiner selbst 
kaum mächtig, wagte er es, einen schnellen Blick rückwärts nach der Er— 
sehnten zu werfen. O Jammer! da schwebt sie, das Auge traurig und 
voll Zärtlichkeit auf ihn heftend, zurück in die schaurige Tiefe. Ver— 
zweiflungsvoll streckt er die Arme nach der Entschwindenden. Ach, um— 
sonst! zum zweitenmal stirbt sie den Tod, doch ohne Klage; hätte sie 
klagen können, so innig geliebt zu sein? Schon ist sie fast seinen Blicken ent⸗ 
schwunden. „Leb' wohl, leb' wohl!“ so tönt es leise verhallend aus 
der Ferne. Starr vor Gram und Entsetzen stand Orpheus zuerst, dann 
stürzte er zurück in die finsteren Klüfte; aber jetzt wehrte ihm Charon und 
weigerte sich, ihn über den schwarzen Styr zu fahren. Sieben Tage 
und Nächte saß nun der Arme am Ufer, ohne Speise und Trank, zahllose 
Tränen vergießend. Um Gnade fleht er die unterirdischen Götter; aber 
diese sind unerbittlich; zum zweitenmal lassen sie sich nicht erweichen. So 
kehrt er dann gramvoll auf die Oberwelt zurück in die einsamen Bergwälder 
Thrakiens. Drei Jahre lang lebt er so dahin, allein, die Gesellschaft der 
Menschen fliehend. Verhaßt ist ihm der Anblick der Frauen, denn ihn 
umschwebt das liebliche Bild seiner Curydice; ihr gelten alle seine Seufzer 
und Lieder, ihrem Andenken die süßen klagenden Töne, die er der Leier 
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„Gustav Schwab.
	        
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