Lebensversicherung.
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34. Lebensversicherung.
Es ist höchst seltsam, daß oft die allergemeinnützigsten Anstalten, deren
Segen unberechenbar ist, nur mühsam Anklang finden und erst eine Menge
von Vorurteilen und falschen Ansichten zu besiegen haben, ehe sie zur rechten
Entfaltung ihrer gemeinnützigen Wirksamkeit gelangen können. Während die
Franzosen und Engländer bereits seit einer langen Reihe von Jahren die wohl—
thätigsten Früchte der Lebensversicherungen genoͤssen haben, wachen wir Deutschen
erst ziemlich spät aus der Lethargie der Gleichgültigkeit, Zweifel und der
ängstlichen Erwägung auf und lassen uns so die Vorteile entgehen, welche
dieser wichtige Zweig vernünftiger Okonomie uns zu bieten vermag.
Mag man immerhin die Eisenbahnen als das großartigste Institut der
neuesten Zeit bezeichnen, zugegeben auch, daß der Einfluß, welchen diese für
Handel und Verkehr haben, bedeutsam und wichtig sei; dennoch dürfen wir
kühn behaupten, daß das Institut der Lebensversicherung für den einzelnen
Menschen, namentlich aber für das Innere des Familienlebens von ungleich
größerer Bedeutung ist. Dort werden große Summen auf einen mutmaß—
chen oder auch wahrscheinlichen Gewinn verwendet, und nur große Kapitalisten
dütfen hoffen, ihr eingelegtes Kapital höher, als es bis jetzt möglich war,
rin zu sehen; dagegen bieten die Lebensversicherungen die allergünstigste
Gelegenheit, kleine Ersparnisse auf das sicherste und mit augenscheinlichem,
merkwürdig großem Gewinn anzulegen. Es ist daher von der äußersten Wich⸗
tigkeit, den überaus segensreichen Einfluß, welchen die Lebensversicherungen
für Familien haben, in ein richtiges Licht zu seßen, damit jeder, der es mit
den Seinen redlich meint, auch in den Stand gesetzt werde, sich ein richtiges
Urteil darüber zu bilden.
Vergleichen wir den gegenwärtigen Zustand unserer häuslichen Verhält—
nisse mit dem, wie er vor etwa fünfzig Jahren war, so ergiebt sich sofort,
daß mit der gesteigerten Bildung, welche durch alle Stände sich ausgebreitet
hat, auch andere Bedingungen für die äußere Existenz fast als notwendige
Ergebnisse gültig geworden sind. Nachdem der schroffe Gegensatz der Stände
unter sich beinahe ganz ausgeglichen worden ist, will jeder durch seine häus—
liche Einrichtung, durch sein äußeres Erscheinen, kurz durch sein ganzes Ver⸗
halten es erkennen lassen, daß es ihm auch nicht an Sinn und Geschmack für
die feineren gesellschaftlichen Beziehungen des Lebens fehle, mithin auch er zu
den Gebildeten gezählt werden müsse. Durch diese Richtung der Zeit ist jedoch
Luxus und namentlich ein Streben nach äußerem Glanz und dem Scheine
der Wohlhabenheit mehr als billig verbreitet worden, so daß das Einkommen
in vielen bürgerlichen Familien nicht mehr so verwaltet wird, daß jährlich eine
kleine Ersparnis für die Tage des Alters oder der Not erzielt wird. Solche
Familien müssen mit Schrecken an den Tod ihrer Ernährer denken.
Es liegt nicht in der menschlichen Natur, oder es kommt ihr mindestens
sehr hart an, der Stimme der Klugheit Gehör zu geben und eine Lebensweise
einzuschlagen, die mit dem allgemeinen Zeitstrome in grellem Widerspruch steht.
„Was hitft's“, sagt man sich, ‚wenn ich nun auch wirklich die äußersten
Ersparnisse einführe, was werde ich wohl erübrigen? und wenn ich mir viel
versage, so würde ich es doch kaum zu ein paar hundert Mark bringen, und
welches hohe Alter müßte ich erreichen, um diese geringe Summe zu einem
Kapital heranwachsen zu sehen, das beträchtlich genug wäre, um mir oder den