Full text: Lehr- und Lesebuch für Gesellenvereine und gewerbliche Fortbildungsschulen

Lebensversicherung. 
1907 
169 
34. Lebensversicherung. 
Es ist höchst seltsam, daß oft die allergemeinnützigsten Anstalten, deren 
Segen unberechenbar ist, nur mühsam Anklang finden und erst eine Menge 
von Vorurteilen und falschen Ansichten zu besiegen haben, ehe sie zur rechten 
Entfaltung ihrer gemeinnützigen Wirksamkeit gelangen können. Während die 
Franzosen und Engländer bereits seit einer langen Reihe von Jahren die wohl— 
thätigsten Früchte der Lebensversicherungen genoͤssen haben, wachen wir Deutschen 
erst ziemlich spät aus der Lethargie der Gleichgültigkeit, Zweifel und der 
ängstlichen Erwägung auf und lassen uns so die Vorteile entgehen, welche 
dieser wichtige Zweig vernünftiger Okonomie uns zu bieten vermag. 
Mag man immerhin die Eisenbahnen als das großartigste Institut der 
neuesten Zeit bezeichnen, zugegeben auch, daß der Einfluß, welchen diese für 
Handel und Verkehr haben, bedeutsam und wichtig sei; dennoch dürfen wir 
kühn behaupten, daß das Institut der Lebensversicherung für den einzelnen 
Menschen, namentlich aber für das Innere des Familienlebens von ungleich 
größerer Bedeutung ist. Dort werden große Summen auf einen mutmaß— 
chen oder auch wahrscheinlichen Gewinn verwendet, und nur große Kapitalisten 
dütfen hoffen, ihr eingelegtes Kapital höher, als es bis jetzt möglich war, 
rin zu sehen; dagegen bieten die Lebensversicherungen die allergünstigste 
Gelegenheit, kleine Ersparnisse auf das sicherste und mit augenscheinlichem, 
merkwürdig großem Gewinn anzulegen. Es ist daher von der äußersten Wich⸗ 
tigkeit, den überaus segensreichen Einfluß, welchen die Lebensversicherungen 
für Familien haben, in ein richtiges Licht zu seßen, damit jeder, der es mit 
den Seinen redlich meint, auch in den Stand gesetzt werde, sich ein richtiges 
Urteil darüber zu bilden. 
Vergleichen wir den gegenwärtigen Zustand unserer häuslichen Verhält— 
nisse mit dem, wie er vor etwa fünfzig Jahren war, so ergiebt sich sofort, 
daß mit der gesteigerten Bildung, welche durch alle Stände sich ausgebreitet 
hat, auch andere Bedingungen für die äußere Existenz fast als notwendige 
Ergebnisse gültig geworden sind. Nachdem der schroffe Gegensatz der Stände 
unter sich beinahe ganz ausgeglichen worden ist, will jeder durch seine häus— 
liche Einrichtung, durch sein äußeres Erscheinen, kurz durch sein ganzes Ver⸗ 
halten es erkennen lassen, daß es ihm auch nicht an Sinn und Geschmack für 
die feineren gesellschaftlichen Beziehungen des Lebens fehle, mithin auch er zu 
den Gebildeten gezählt werden müsse. Durch diese Richtung der Zeit ist jedoch 
Luxus und namentlich ein Streben nach äußerem Glanz und dem Scheine 
der Wohlhabenheit mehr als billig verbreitet worden, so daß das Einkommen 
in vielen bürgerlichen Familien nicht mehr so verwaltet wird, daß jährlich eine 
kleine Ersparnis für die Tage des Alters oder der Not erzielt wird. Solche 
Familien müssen mit Schrecken an den Tod ihrer Ernährer denken. 
Es liegt nicht in der menschlichen Natur, oder es kommt ihr mindestens 
sehr hart an, der Stimme der Klugheit Gehör zu geben und eine Lebensweise 
einzuschlagen, die mit dem allgemeinen Zeitstrome in grellem Widerspruch steht. 
„Was hitft's“, sagt man sich, ‚wenn ich nun auch wirklich die äußersten 
Ersparnisse einführe, was werde ich wohl erübrigen? und wenn ich mir viel 
versage, so würde ich es doch kaum zu ein paar hundert Mark bringen, und 
welches hohe Alter müßte ich erreichen, um diese geringe Summe zu einem 
Kapital heranwachsen zu sehen, das beträchtlich genug wäre, um mir oder den
	        
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