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2. Wanderung ins Leben.
Wenn du aus dem Vaterhause oder aus dem Hause deines Lehr⸗
meisters die erste Wanderung in die Welt antrittst, so machst du's wie
der Vogel, der aus dem Käfig entwischt ist. Er schüttelt sich und
rüttelt sich, als wolle er den Staub von den Federn wegwischen.
Dann stimmt er sein Liedlein an, und nun geht's fort ins Freie. Auf
seinem luftigen Fluge kann er aber ebenso leicht in die Klauen eines
Habichts geraten als zu seinesgleichen, die ihn zum Wasserquell und
zur Futterstätte führen. — So kann dir's in der Fremde auch gehen.
Der Habichte gibt es viele, die wie Tauben aussehen.
Darum beherzige, indem du in neue Lebensverhältnisse eintrittst, den
Spruch:
„Geh ohne Stab nicht durch den Schnee
und ohne Steuer nicht zur See;
geh ohn' Gebet und Gottes Wort
niemals aus deinem Hause fort!“
Wer ohne Stab auf unbekanntem Wege durch den Schnee geht,
der kann leicht ausgleiten und fallen. Wer ohne Steuer in die See
fährt, der wird mit seinem Schiff von Wind und Wellen umher⸗
getrieben, verfehlt sein Ziel und verunglückt wohl gar in der Tiefe.
Das Sprichwort meint aber nicht den eigentlichen Schnee und das
eigentliche Meer, sondern das Leben in der Welt. Da gerät auch
mancher auf Wege, an denen das Verderben lauert; er fällt von einer
Sünde in die andre und wird elend an Leib und Seele wie der ver—
lorene Sohn. Er vergißt sein Vaterhaus und das Ziel seiner himmlischen
Berufung. Darum mahnt das Sprüchlein an einen kräftigen Stab
und an ein sicheres Steuerruder; es sagt: „Geh ohn' Gebet und
Gottes Wort niemals aus deinem Hause fort!“ Das Gebet
und Gottes Wort sind für jeden in der Fremde ein Stab und ein
Steuerruder. Das Gebet ist für ihn ein Stab; denn wenn er Not
leidet, wenn er sich einsam und verlassen fühlt, wenn sein Mut und
seine Kraft ihn verlassen: dann hilft ein Gebet zu Gott, der unser
Helfer und Begleiter ist. Das gibt Hoffnung, die nicht zu schanden
werden läßt. Das Wort Gottes ist ein Steuerruder, das dem Leben
Richtung gibt. Wenn die Versuchung dich auf Abwege führen will,
dann ruft es dir zu: „Wandle vor mir und sei fromm!“ Wenn dein
Herz sich der Lust dieser Welt zuwendet, dann mahnt es: „Habt nicht
lieb die Welt, noch was in der Welt ist!“ — Gehsi du mit dem Gebet
und mit Gottes Wort aus deinem Hause, so geht mit dir, wie mit
dem jungen Tobias, ein leitender Engel Gottes. Gehst du mit dem
Gebet und mit Gottes Wort aus deinem Vaterhause, so ist es dir, als
ginge das Vaterhaus überall mit dir; kein Heimweh kommt in deine
Seele und kein Verzagen, kein Wanken und Schwanken in dem, was
Gottes Wille ist. Die Verführung bekommt dich nicht in ihre Gewalt;
Ehre und Gewissen bleiben unbefleckt.
W. O. v. Horn.