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Nun war es an einem trüben Wintertage. Draußen wirbelten die
Schneeflocken umher, drinnen im Stübchen war es warm, denn
die Fenster waren dicht mit Moos umkleidet, und an Holz fehlte
es nicht, das sammelten die Kinder im Walde. Trotzdem faßen alle
von Angst und Sorge bedrückt. Vor einigen Stunden hatte die
Mutter das älteste Mädchen, die zwölfjährige Lili, mit einem Kruge
zu einem nicht fern wohnenden Klausner geschickt, um ein wenig
Ziegenmilch von ihm zu erbitten; denn die eigenen Ziegen, die
Bertold gehabt, hatte man längst geschlachtet und verzehrt, und
Lili kam noch immer nicht wieder. Sie war ein liebes Mädchen
mit langen, blonden Haaren und blauen, von Herzensgüte strahlen¬
den Augen. Und weil sie so lieblich und zart anzusehen und so hold
und gut in allem war, was sie tat, ward sie von den Eltern und
Nachbarn gewöhnlich „Waldlilie" genannt.
2. Waldlilie verirrte sich in dem verschneiten Walde.
Der Abend brach schon herein, der Schnee fiel immer
dicker und schwerer, die kleineren Kinder riefen nach der Milch,
und die kranke Mutter lauschte voller Angst, ob sie ihr liebes
Kind noch nicht kommen höre. Auch bei den: Vater, der seine
Waldlilie über alles liebte, stieg die Angst mit jeder Stunde höher.
Lili kannte zwar die Waldwege und Abgründe, aber der Schnee
und die Dunkelheit verdeckten alles. Endlich ließ die Unruhe den
Vater nicht länger in der Hütte warten, er eilte in die Nacht
hinaus, sein Kind zu suchen. Stundenlang irrte er in dem finstern
Wald umher und rief Lilis Namen, aber vergebens. Kein Laut
antwortete ihm, und ganz ermattet mußte er endlich wieder die
Hütte aufsuchen. Am andern Morgen war das Häuschen ganz
eingeschneit und weder Weg noch Steg zu sehen. Die armen Eltern
trösteten sich mit der Hoffnung, Lili werde über Nacht bei dem
Klausner geblieben sein, wie es früher schon geschehen war. Als
es aber dem Vater am dritten Tag gelang, durch die Schnee¬
massen hindurch zum Klausner zu dringen, da hörte er zu seinem
Schrecken, daß Lili wohl vor drei Tagen dagewesen sei, den Rück-