Volltext: Für Klasse 3 (achtes Schuljahr) und die Untertertia der Studienanstalten (Teil 7, [Schülerband])

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geregt und von der Melodie getragen, findet der nächste die dritte, 
und sofort singen sie, glücklich ihres Fundes, das Lied im Chore. 
Sprungweise, rasch, oft unvermittelt, der plötzlichen Anregung fol¬ 
gend, setzen sich die Teile des Liedes zusammen, wie Kristalle, die 
plötzlich aneinander schießen. Wenig Rücksicht wird auf die Form ge¬ 
nommen. Wie wäre bei der Entstehungsart dieser Lieder die Mutze 
zu einer sorgfältigen Ausführung dagewesen! Der Hauptton liegt stets 
auf der Empfindung, für die das bezeichnende Wort mit überraschender 
Wirkung gefunden wird. Und mit dem Worte die Melodie. Mochte 
doch die Form in ihren Teilen unvermittelt sein, die Melodie, ohne 
die das Volkslied nicht zu denken ist, verband und vermittelte den 
springenden Gang der Darstellung. Es gibt keine innigere Verschmel¬ 
zung von Wort und Weise, als im Volksliede, und diese ist eben 
nur aus dem gemeinsamen Ursprung zu erklären. Das Volkslied will 
gesungen sein, und die es entstehen sahen, dachten nicht daran, es 
aufzuschreiben. Auf dem Papier, gelesen und ohne Melodie, entbehrt 
es der Hälfte seines Wesens, wie eine Blume, die man mit farblosem 
Griffel nachgezeichnet hat. 
Wie die Empfindung im Volksliede plötzlich und unerwartet her¬ 
vorbricht, so auch wird die Örtlichkeit mit einem Schlage hingeworfen: 
ein Wirtshaus, eine Linde im Tal, eine verborgene Mühle, so datz 
man die Handlung zugleich mit einem landschaftlichen Hintergrund er¬ 
blickt. Das unbefangene Naturleben brauchte nicht nach dem Bilde zu 
suchen, es nahm seine Anschauungen aus der Wirklichkeit und ließ sie auf 
dem Strom des Gefühls widerspiegeln. Und die Wirklichkeit, das eigne 
Erlebnis, das Leben mit seinen Leiden und Freuden ist es, was, ver¬ 
klärt von der Innigkeit des Gemüts, durch das Volkslied geht. Ohne 
Vorbereitung versetzt es sich mit sinnlicher Anschaulichkeit mitten in die 
Lage, geht rasch auf die entsprechende über,' und weiß, halb andeutend 
und verschleiernd, eine Stimmung hervorzurufen, die unwiderstehlich 
fesselt. Das Menschliche, Ursprüngliche, Natürliche und Naturgemäße 
ist überall auch das Poetische, und so gehört das Volkslied, bei der 
treffenden Wahrheit seines Ausdrucks, zu dem Schönsten und Be¬ 
wunderungswürdigsten, was die deutsche Dichtung hervorgebracht hat. 
Den Anschauungen des Volkes ist es gemäß, die umgebende Natur 
zu beleben, sie dem menschlichen Treiben zu verähnlichen. Die Eule 
sitzt und spinnt, Nachtigallen fliegen auf Botschaft, das Mädchen unter¬ 
hält sich mit der Haselstaude, als einer Frau Haselin, und die Liebe
	        
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