Full text: [Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband])

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und dem Arzte vorgestellt zu werden, für Abendbrot und Nachtlager 
solle ich mich an den Polizeikommissar des Ortes wenden. Dieser 
nahm meinen Wunsch sehr wohlwollend entgegen und forderte mich auf, 
ihm in seine Wohnung zu folgen, wo er mir eine Karte überreichte. Diese 
z Karte gab mir die Berechtigung zu freier Abendmahlzeit und freiem Nacht— 
lager. Wohlgestärkt durch Suppe, Gemüse, Brot und Bier legte ich mich 
zur Ruhe und schlief bis zum hellen Morgen. Gegen Mittag fand ich 
mich auf dem Rekrutierungsbureau ein. Da meine Papiere sich in 
Ordnung befanden, stand meiner Aufnahme in die Fremdenlegion nichts 
10 mehr im Wege. Nachmittags wurde ich dem Arzte vorgeführt. Ein 
flüchtiges Beschauen, eine Untersuchung des Herzens, eine Prüfung der 
Augen — und ich war für tauglich erklärt. Wenige Minuten später 
unterzeichnete ich den Vertrag, in dem ich mich verpflichtete, der französischen 
Republik als ein treuer, ehrlicher, gehorsamer und tapferer Soldat fünf 
Jahre lang zu dienen. „Auf Wiedersehen!“ riefen die Kameraden, als 
ich den Kasernenhof verließ, und „Auf Wiedersehen!“ antwortete ich ge— 
preßten Herzens. Dann saß ich im Zuge. Der Korporal reichte mir die 
Hand zum Abschiede — und fort ging's, dem Süden Frankreichs entgegen. 
Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, als wir die Hafenstadt 
20 Marseille erreichten. In dem großen Gedränge, das auf dem elektrisch 
beleuchteten Bahnsteige herrschte, bemerkte ich alsbald eine Menge 
Gendarmen, deren Blicke forschend über die Ankömmlinge glitten, sowie 
einige Unteroffiziere, die augenscheinlich ebenfalls auf Beute ausgingen. 
Meine Kleidung leitete jeden Verdacht ab, und es hätte mir freigestanden, 
25 den Bahnhof zu verlassen, um dem „Paris des Südens“ einen Besuch 
abzustatten, ohne daß man in mir einen unter dem Kriegsgesetz stehenden 
Legionär vermutet hätte. Aber dazu gehört jedenfalls Geld, und das 
wenige Geld, das mir noch von meinem Reisegeld geblieben war, reichte 
nicht einmal mehr zu einem bescheidenen Nachtlager. So stellte ich mich 
z0 denn dem ersten besten Sergeanten. Bei dem Marseiller Militär hoffte 
ich die freundliche Höflichkeit wieder zu finden, die ich in Belfort an— 
getroffen hatte; doch diese Hoffnung verschwand alsbald gänzlich. Mit 
herrischen Worten wurde ich aufgefordert zu folgen. Der Sergeant führte 
mich in ein Bureau, und hier fand ich zu meinem größten Erstaunen, 
daß ich nicht der einzige war, der nach dem Eintritt in die französische 
Fremdenlegion verlangte. Um den großen Tisch, an dem der Sergeant 
die Reisepässe entgegennahm, drängten sich Gestalten verschiedenster Art: 
Elsässer in breiten Filzhüten und blauen Kitteln, zerlumpte Belgier mit 
Holzschuhen, Deutsche, und in Gehrock und Seidenhut ein Wiener, den 
10 goldenen Kneifer auf der Nase. 
Wir wurden in zwei Gliedern aufgestellt, und von dem Korporal 
begleitet, durchzog der sonderbare Zug die Straßen von Marseille. Bald 
umdrängte uns die lärmende Schar der Marseiller Gassenjungen. Sie ballten 
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