Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

130 
Roland das Schwert zur Seile band, 
Herrn Milon's starke Waffen: 
Die Lanze nahm er in die Hand 
Und that den Schild aufraffen; 
Herrn Milon's Roß bestieg er dann 
Und ritt ganz sachte durch den Tann, 
Den Vater nicht zu wecken. 
Und als er kam zur Felsenwand, 
Da sprach der Ries' mit Lachen: 
„Was will doch dieser kleine Fant 
Auf solchem Rosse machen? 
Sein Schwert ist zwier so lang als er, 
Vom Rosse zieht ihn schier der Speer, 
Der Schild will ihn erdrücken." 
Jung Roland rief: „Wohlauf zum 
Streit! 
Dich reuet noch dein Necken; 
Hab' ich die Tartsche lang und breit, 
Kann sie mich besser decken; 
Ein kleiner Mann, ein großes Pferd, 
Ein kurzer Arm, ein langes Schwert, 
Muß eins dem andern helfen." 
Der Riese mit der Stange schlug 
Auslangend in die Weite, 
'Jung Roland schwenkte schnell genug 
Sein Roß noch auf die Seite. 
Die Lanz' er auf den Riesen schwang, 
Doch von dem Wunderschilde sprang 
Auf Roland sie zurücke. 
Jung Roland nahm in großer Hast 
Das Schwert in beide Hände; 
Der Riese nach dem seinen faßt', 
Er war zu unbehcnde; 
Mit flinkem Hiebe schlug Roland 
Ihm unterm Schild die linke Hand, 
Daß Hand und Schild entrollten. 
Dem Riesen schwand der Muth dahin, 
Wie ihm der Schild entrissen; 
Das Kleinod, das ihm Kraft verliehn, 
Mußt' er mit Schmerzen missen. 
Zwar lief er gleich dem Schilde nach, 
Doch Roland in das Knie ihn stach, 
Daß er zu Boden stürzte. 
Roland ihn bei den Haaren griff, 
Hieb ihm das Haupt herunter, 
Ein großer Strom von Blute lief 
Ins tiefe Thal hinunter; 
Und aus des Todten Schild hernach 
Roland das lichte Kleinod brach 
Und freute sich am Glanze. 
Dann barg er's unterm Kleide gut 
Und gieng zu einer Quelle, 
Da wusch er sich von Staub und Blut 
Gewand und Waffen helle. 
Zurücke ritt der jung' Roland 
Dahin, wo er den Vater fand 
Noch schlafend bei der Eiche. 
Er legt' sich an des Vaters Seit', 
Vom Schlafe selbst bezwungen, 
Bis in der kühlen Abendzeit 
Herr Milon aufgesprungen: 
„Wach' auf, wach' auf, mein Sohn 
Roland! 
Nimm Schild und Lanze schnell zur 
Hand, 
Daß wir den Riesen suchen!" 
Sie stiegen auf und eilten sehr, 
Zu schweifen in die Wilde; 
Roland ritt hinterm Vater her 
Mit dessen Speer und Schilde. 
Sie kamen bald zu jener Statt', 
Wo Roland jüngst gestritten hatt'; 
Der Riese lag im Blute. 
Roland kaum seinen Augen glaubt', 
Als nicht mehr war zu schauen 
Die linke Hand, dazu das Haupt, 
So er ihm abgehauen, 
Nicht mehr des Riesen Schwert und 
Speer, 
Auch nicht sein Schild und Harnisch 
mehr, 
Nur Rumpf und blut'ge Glieder. 
Milon besah den großen Rumpf: 
„Was ist das für 'ne Leiche? 
Man sieht noch am zerhau'nen Stumpf, 
Wie mächtig war die Eiche. 
Das ist der Riese, frag' ich mehr? 
Verschlafen hab' ich Sieg und Ehr', 
Drum muß ich ewig trauern." —
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.