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„Noch nicht, noch nicht!" Da tobte der König und sagte: „Was sollen
wir anfangen, wenn noch mehrere mit ihm kommen?" „Wie er kommen
wird", antwortete jener, „wirst dn gewahr werden; was mit uns geschehe,
weiß ich nicht." Unter diesen Reden zeigte sich ein neuer Troß. Erstaunt
sagte Desiderius: „Darunter ist doch Karl?" „„Immer noch nicht", sprach
Ogger. Nächstdem erblickte man Bischöfe, Äbte, Kapellane mit ihrer
Geistlichkeit. Außer sich stöhnte Desiderius: „O laß uns niedersteigen und
uns bergen in der Erde vor dem Angesichte dieses grausamen Feindes."
Da erinnerte sich Ogger der herrlichen, unvergleichlichen Macht des Königs
Karl aus bessern Zeiten her und brach in die Worte aus: „Wenn du
die Saat auf den Feldern wirst starren sehen, den eisernen Po und Tissino
mit dunkeln eisenschwarzen Meereswellen die Stadtmauern überschwemmen,
dann gewarte, daß Karl kommt." Kaum war dies ausgeredet, als sich
im Westen eine finstere Wolke zeigte, die den Hellen Tag beschattete.
Dann sah man den eisernen Karl in einem Eisenhelm, in eisernen Schienen,
eisernem Panzer um die breite Brust, eine Eisenstange in der Linken hoch
aufreckend. In der Rechten hielt er den Stahl, der Schild war ganz aus
Eisen, und auch sein Roß schien eisern an Muth und Farbe. Alle, die
ihm vorausgiengen, zur Seite waren und ihm nachfolgten, ja das ganze
Heer schien auf gleiche Weise ausgerüstet. Einen schnellen Blick darauf
werfend, rief Ogger: „Hier hast du den, nachdem du so viel frügest", und
stürzte halb entseelt zu Boden. Brüder Grimm.
108. Die Weser.
Ich kenne einen deutschen Strom,
Der ist mir lieb und werth vor allen.
Umwölbt von ernster Eichen Dom,
Umgrünt von kühlen Buchenhallen.
Ihn hat nicht, wie den großen Rhein,
Der Alpe dunkler Geist beschworen,
Ihn hat der friedliche Verein
Verwandter Ströme still geboren. —
So taucht die Weser kindlich auf
Von Hügeln traulich eingeschlosicn,
Und kommt in träumerischem Lauf
Durch grüne Au'n herabgeflosicn;
So windet sie mit leisem Fuß
Zum deutschen Meere sich hernieder
Und spiegelt mit geschwätz'gcm Gruß
Der Ufer sanften Frieden wieder. —
Doch hat sie in der Zeiten Flug
Auch manche große Mär erfahren,
Und ihre stille Woge trug
Biel Herrliches in fernen Jahren.
Sie sah in ihrer Wälder Schoß
Des Adlers Sicgerflügel wanken —
llnb vor der deutschen Arme Stoß
Der ew'gen Roma Säulen schwanken. —
Und als mit fester Eisenhand
Held Karl das deutsche Scepter führte,
Da war es, wo im Weserland
Sich manche Stimme mächtig rührte,
Da hörte man des Kreuzes Ruf
Mit hellem Klang an den Gestaden,
Und sah der Frankenrosse Huf
Sich in den nord'schen Wellen baden.
So meldet sie dir manchen Traum
Aus ihrer Vorzeit grauen Tagen
Und sieht dabei des Lebens Baum
Stets frisch an ihren Ufern ragen.
Es glänzen in der lichten Flut
Der Klöster und der Burgen Trümmer,
Des Mondes und der Sonne Glut,
Der Türme und der Segel Schimmer.
Und meerwärts durch ihr Felsenthor,
Durch ihre wechselnden Gefilde
Strömt sie die Wellen leicht hervor,
Wie jugendliche Traumgebilde;
In ihren Tiefen klar und rein
Hörst du es seltsam wehn und rauschen
Und kannst bei stillem Abendschein
Der Nixe Wundcrlied belauschen.
F. Dingelstedt.