Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

8 Neudeutsche Literatur. 
und von den Grazien mit holder Pracht auf seinem Scheitel gebunden. Ich 
vergesse alles andere über den Anblick dieses Wunderwerks der Kunst, und ich 
nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen. Mi 
Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben, wie diejeni— 
gen, die ich wie vom Geiste der Weissagung aufgeschwellet sehe, und ich fuhle 
mich weggerückt nach Delos und in die lycischen Haine, Orte, welche Apollo 
mit seiner Gegenwart beehrte: denn mein Bild scheint Leben und Bewegung 
zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit. Wie ist es möglich, es zu 
malen und zu beschreiben! Die Kunst selbst müßte mir rathen und die Hand 
leiten, die ersten Züge, welche ich hier entworfen habe, künftig auszuführen. 
Ich lege den Begriff, welchen ich von diesem Bilde gegeben habe, zu dessen 
Füßen, wie die Kränze derjenigen, die das Haupt der Gottheiten, velche sie 
krönen wollten, nicht erreichen konnten. 
2. Gotth. Ephraim Lessing. 
. 109 113. Lehrb. . 849) 
E— 
Wie der Dichter und der Künstler die Begebenheit darstellt. 
Es gibt Kenner des Alterthums, welche die Gruppe Laokoon zwar für 
ein Werk griechischer Meister aber aus der Zeit der Kaiser halten, weil sie 
glauben, daß der Virgilische Laokoon dabei zum Vorbilde gedient haben Sie 
fanden ohne Zweifel zwischen dem Kunstwerk und der Beschreibung des Dich— 
ters eine so besondere Uebereinstimmung, daß es ihnen unmöglich dünkte, daß 
beide von ungefähr auf einerlei Umstände sollten gefallen sein, die sich nichts 
weniger, als von selbst darbieten. Dabei setzten sie voraus, daß, wenn es auf 
die Ehre der Erfindung und des ersten Gedankens ankomme, die Wahrschein 
lichkeit für den Dichter ungleich größer sei, als für den Künstler Nur 
scheinen sie vergessen zu haben, daß ein dritter Fall möglich sein Denn viel 
leicht hat der Dichter eben so wenig den Künstler, als der Künstler den Dichter 
nachgeahmt, sondern beide haben aus einerlei älteren Quellen geschöpft. 
Der Einfall, den Vater mit seinen beiden Söhnen durch die mörderischen 
Schlangen in einen Knoten zu schürzen, ist ohnstteitig ein sehr glücklicher Ein⸗ 
fall, der von einer ungemein malerischen Phantasie zeiget. Wem gehört er? 
dem Dichter oder den Künstlern? — Der Dichter hat die Schlangen von einer 
wunderbaren Länge geschildert. Sie haben die Knaben umstrickt, und da der 
Vater ihnen zu Hülfe kommt, ergreifen sie auch ihn. Nach ihrer Größe konnten 
sie sich nicht auf einmal von den Knaben loswinden; es mußte also einen 
Augenblick geben, da sie den Vater mit ihren Köpfen und Vordertheilen schon 
angefallen hatten, und mit ihren Hintertheilen die Knaben noch verschlungen 
hielten. Dieser Augenblick ist in der Fortschreitung des poetischen Gemaldes 
nothwendig; der Dichter läßt ihn sattfam empfinden; nur ihn auszumalen, 
dazu war jetzt die Zeit nicht. Daß ihn die alten Ausleger auch wirklih em 
pfunden haben, scheinet eine Stelle des Donatus zu bezeugen. Wie viel 
weniger wird er den Künstlern entwischt sein, in deren verständiges Auge alles, 
was ihnen vortheilhaft werden kann, so schnell und deutlich einleuchtet? In 
den Windungen selbst, mit welchen der Dichter die Schlangen um den Laokoon 
führet, vermeidet er sehr sorgfältig die Arme, um den Händen alle ihre Wirk⸗ 
samkeit zu lassen. EHle inul manibus teudit divelläe nodes Hierin 
68
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.