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Tod Säemann
die Großmut röchelte unter den würgenden Händen der Habgier.
Vielen Tugenden erging es schlecht an dem Tage; aber auch
viele Laster meinten den Rest bekommen zu haben.
In der ganzen großen Heerschar blieb nur eine unversehrt;
es war eine der Tugenden: es war die Güte.
Mit Steinen beworfen, von den Pfeilen des Undanks durch¬
bohrt, hundertmal niedergezwungen, erhob sie sich immer wieder
unverwundbar, unüberwindlich und trat von neuem in den wü¬
tenden Kampf.
Es wurde Abend und Nacht; der Streit blieb unentschieden,
die Streiter lagen erschöpft. Die Güte allein wandelte über die
Walstatt, munter wie ein sprudelnder Quell, lieblich wie das Mor¬
genrot, und labte die Leidenden, und in dem Augenblicke ließen
sogar ihre Feinde es gelten: „Die Stärkste bist dul"
Marie von Ebner-Eschenbach.
120. Tod Säemann.
Durch ein wallend Korngefilde schreitend,
Sah ich, wie ein Mann die Ähren mähte;
Aus der freien Linken aber gleitend,
Sah ich Körner, die er wieder säte.
5 Seltsam war ein Schnitter mir erschienen,
Der zugleich das Feld mit Samen segnet.
Da erkannt' ich seine ernsten Mienen:
Sieh, es war der Tod, dem ich begegnet.
Ricarda Huch.
121. Dem Zweifler.
1. Den Geist von dunkler Zweifelsqual zerklüftet,
Durchblätterst du der Schöpfung Buch,
Den Kern des Lebens aufzufinden, lüftet
Dein Forschen manches Leichentuch.
2. Geharnischt eherne Gedanken schlagen
In dir sich die Verzweiflungsschlacht:
Doch keine Antwort stillet deine Fragen —
Und finst'rer stets wird deine Nacht.