Full text: [Teil 3, [Schülerband]] (Teil 3, [Schülerband])

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Schwingen gleiten die großen Segelschiffe zwischen ihnen hin und 
her. In leuchtender Stahlfarbe schimmert die tiefe Flut. Einen 
schöneren Morgen auf dem Meere könnte kein Seemann träumen. 
Nur wer das Meer haßt, findet es einförmig. Dem, der es liebt, 
enthüllt es, wo er auch sei, von Stunde zu Stunde andere und immer 
neue Reize. Auch heute gewann es um Mittag ein anderes Ansehen 
als am Morgen. Wir fuhren über eine seichte Stelle, an welcher das 
Wasser die schöne, smaragdgrüne Farbe annahm, welche den nordischen 
Meeren bis zu einer gewissen Tiefe eigen ist. Wir kreuzten die Fläche 
zu derselben Zeit, als eine Flottille von hundert englischen Fischer⸗ 
böten darauf hin⸗ und herstrich. Die zierlichen kleinen Fahrzeuge mit 
ihren blendendroten Segeln standen leuchtend über der grünen Flut 
am hellen Himmel. 
Wieder ein anderes Ansehen erhielt das Meer in den 
Nachmittagsstunden. Wir erreichten wieder tiefes Wasser. Hier 
mußten starke Nordwinde geweht haben; denn eine hohe Dünung traf 
die Seitenwände unseres Schiffes und versetzte es in so heftiges 
Rollen, daß in den Kajüten alles darüber und darunter ging und die 
Mehrzahl der Mitreisenden krank wurde. Wir blieben auf dem 
Verdecke sitzen und schauten dem eigenartigen Schauspiel der langsam 
anrollenden Wogen zu, welche dadurch ein besonderes Leben erhielten, 
daß die kleinen Wellchen, welche, eine Folge des leichten Westwindes, 
hinter unserm Schiffe herplätscherten, jene großen Dunungswogen 
im rechten Winkel kreuzten und frisch und hurtig mit kleinen weißen 
Schaumspitzen über sie hinliefen. 
Still und einsam war hier das Meer; denn die Fahrstraße der 
vom Norden dem englischen Kanal zusteuernden Schiffe hatten wir 
bereits heute morgen gekreuzt, und das Fahrwasser der von den deut 
schen Nordseehäfen nach England und dem Ozeaue steuernden Schiffe 
hatten wir noch nicht erreicht. Die Bahn zwischen der schottischen 
Ostküste und Deutschlands Nordwestküste ist aber nur schwach befahren. 
Wir schienen allein in der unendlichen Flut zu schwimmen, über 
welcher ein wolkenloser Himmel sich wölbte, und wir genossen den 
Anblick der stillen, großen Unendlichkeit mit ahnungsvollem Schauer. 
Rot und feurig sank die Sonne in die slahlfarbene Flut. Kein 
Widerschein von Wolken breitete einen Rosenschimmer über die ganze 
See aus wie gestern. Das langgezogene Spiegelbild der Sonne lag 
zwischen uns an der Stelle, wo sie sank, als vielfach bewegter, schmaler 
Feuerstreifen von fast erkaltetem Lichte auf der metallisch glänzenden 
Wasserfläche. Die Dämmerung war lang und klar. Allmählich blitzte 
ein Stern nach dem andern auf. Bald war der dunkle Himmel mit 
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