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einen Hahn in der Nähe krähen; denn das verwünschte Schloß mit seinen
Bewohnern steht noch unter der Erde, darinnen schlafen die Fräulein bis
zun: jüngsten Tag. Alle drei Jahre aber, an dem Tage, an dem das Schloß
verflucht wurde, kräht dreimal der Hahn. Da wachen die Schläfer auf im
Bergesschloß, beten ein Ave Maria und bereuen ihre Missetaten. Manche
Leute erzählen auch, daß die verwünschten Fräulein aus dem Berge auf Kirch¬
weihen gekommen seien und sich unter die tanzenden Mädchen gemischt hätten;
doch seien sie immer blaß gewesen und wären nie über den Glockenschlag
zwölf hinaus bei den Tänzen geblieben. Ludwig Bechstein.
34. Der Wunschring.
Ein junger Bauer, mit dem es in der Wirtschaft nicht recht vor¬
wärts gehen wollte, saß auf seinem Pfluge und ruhte einen Augenblick aus
um sich den Schweiß vom Angesichte zu wischen. Da kam eine alte Hexe
vorbeigeschlichen und rief ihm zu: „Was plagst du dich und bringst's doch
zu nichts! Geh zwei Tage lang geradeaus, bis du an eine große Tanne
kommst, die frei im Walde steht und alle andern Bäume überragt! Wenn
du die umschlägst, dann ist dein Glück gemacht."
Der Bauer ließ sich das nicht zweimal sagen, nahm sein Beil und machte
sich auf den Weg. Nach zwei Tagen fand er die Tanne. Er ging sofort
daran sie zu fällen und in dem Augenblicke, wo sie umstürzte und mit Ge¬
walt auf den Boden schlug, fiel aus ihrem höchsten Wipfel ein Nest mit zwei
Eiern heraus. Die Eier rollten auf den Boden und zerbrachen, und wie sie
zerbrachen, kam aus dem einen Ei ein junger Adler heraus und aus dem
andern fiel ein kleiner goldener Ring. Der Adler wuchs zusehends, bis er wohl
halbe Manneshöhe hatte, schüttelte seine Flügel, als wollte er sie probieren,
erhob sich etwas über die Erde und rief dann: „Du hast mich erlöst! Nimm
zum Danke den Ring, der in dem andern Ei gewesen ist! Es ist ein Wunsch¬
ring. Wenn du ihn am Finger umdrehst und dabei einen Wunsch aussprichst,
wird er alsbald in Erfüllung gehen. Aber es ist nur ein einziger Wunsch
im Ringe. Ist der getan, so hat der Ring alle weitere Kraft verloren und
ist nur wie ein gewöhnlicher Ring. Darum überlege dir wohl, was du dir
wünschest, auf daß es dich nicht nachher gereue!" Darauf erhob sich der
Adler hoch in die Luft, schwebte lange noch in großen Kreisen über dem
Haupte des Bauern und schoß dann wie ein Pfeil nach Morgen.
Der Bauer nahm den Ring, steckte ihn an den Finger und begab sich
auf den Heimweg. Als es Abend war, langte er in einer Stadt an; da
stand der Goldschmied im Laden und hatte viel köstliche Ringe feil. Da
zeigte ihm der Bauer seinen Ring und fragte ihn, was der wohl wert wäre.
„Einen Pappenstiel!" versetzte der Goldschmied. Da lachte der Bauer laut
auf und erzählte ihm, daß es ein Wunschring sei und mehr wert als alle
Ringe zusammen, die jener feilhielte. Doch der Goldschmied war ein falscher,
ränkevoller Mann. Er lud den Bauern ein über Nacht bei ihm zu bleiben
und sagte: „Einen Mann wie dich mit solchem Kleinode zu beherbergen