Full text: Deutsches Lesebuch für die oberen Abtheilungen ein- und mehrklassiger Elementarschulen in der Stadt und auf dem Lande

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Und Petrus sprach zum Herren: Nicht so? genügt ich hab’, 
Wenn ich dem sünd’gen Bruder schon siebenmal vergab? 
Doch Jesus sprach dagegen: Nicht siebenmal vergieb, 
Nein, siebenzig mal sieben, das ist dem Vater lieb." 
Da schmilzt des Kaisers Strenge in Thränen unbewusst, 
Er hebt ihn auf, den Bruder, er drükkt ihn an die Brust; 
Ein lauter Ruf der Freude ist jubelnd rings erwacht. 
Nie schöner ward begangen die heil’ge Weihenacht. 
188. Karl der Zwölfte und der pommersche Bauer Mnsebank. 
In seinem Zelt vor Bender sitzt Karl der Zwölfte still, kein 
Schach ihn mehr zerstreuen, kein Buch ermuntern will. Von aller 
Welt verlassen, versagt in seiner Roth der Türk' dem trotz'gen 
König, gemach schon Fleisch und Brot. 
Vergebens mahnet Düring: „Gieb deinen Feinden nach!" 
Vergebens Rosen: „Fliehe, o Held, dein Ungemach! Was sitzest 
dn und sinnest, wie ein vergrämter Aar im Horst von Folgesonde, 
und trotzest der Gefahr? Mach' ans die edlen Schwingen und aus 
dem Sonnenbrand zieh' heim in's kühlumwogte, geliebte Vaterland. 
Da sammle wieder eilig die alte Kraft zu Hans', und gehe, wie 
daö Nordlicht, in blut'gen Striemen au fl" 
Doch trotzig spricht der König: „„Schweigt; ihr erlebt eö nie, 
dasi ich vor Türkenhunden, wie eine Memme flieh! Wohl sehnt 
sich Nordlands Wogen mein Herz, wie eures, zu; doch sterb' ich, 
eh ich weiche, und Achmed'ö Willen thu'!"" 
Da naht der Kanzler Müller: „O Herr, dein Häuflein schreit, 
gedrükkt vom bittern Hunger, womit erhalt' ich'S heut?" 
„„Schießt die Araberrosse deö Sultans Achmed todt; da habt 
ihr Fleisch, hier ist mein eignes letztes Brot!"" 
Der Kanzler geht mit Thränen. Bald krachet Schuß auf 
Schuß. Der König hebt daö Auge voll Sorge und Verdruß; denn 
sieh', man führet schonend sein Leibroß ihm zurükk, drum greift er 
zur Pistole im nächsten Augenblikk — 
„„halt, halt!"" und setzet grausam den Lauf ihm hinter'- 
Ohr. — Nie brachte je Arabien ein schön'res Thier hervor. — 
,,dich schießet nicht!" ruft Rosen, ruft Düring; doch er schoß, und 
ächzend stürzt zusammen ihm sein erlauchtes Roß. 
„„Glaubt ihr, ich solle hungern?"" fragt bitter lachend er, 
derweilen Alles schreiet: „Was macht ihr, gnäd'ger Herr?" Doch, 
gleich als ahnt ihm düster schon jetzt sein gleich Geschikk, hebt von 
dem Roß er lange nicht den bewegten Blikk,- setzt bald sich drauf, 
wie wenn es ihn unsichtbar ergreift, indeß daö Blut deö Thieres 
ihm in die Stulpen läuft, und wühlet mit den Sporen im Sande 
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