Full text: Lesebuch für weibliche Fortbildungs- und Feiertagsschulen

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11. Das Bild der Mutier. 
heftigen Unwillen gleicht, gänzlich fremd, ja unmöglich zu sein, und ich 
habe nie ein hartes Wort über ihre Lippen gehen hören. Wenn der 
Vater, in dessen Natur eine starke Anlage zu heftigen Aufwallungen lag, 
je zuweilen aus menschlicher Schwäche auch ein heftiges Wort gegen sie 
sprach, da schwieg sie wie ein Lamm und that ihren Mund nicht aus. 
Mit deu Dienstboten und Arbeitern zankte sie nie, sondern verwies ihnen 
das, was unrecht war, mit sanftem Ernste. Sie urteilte nie hart über einen 
abwesenden Menschen und mochte dies Urteilen auch an anderen nicht leiden. 
Und dennoch hat wohl selten eine Frau in ihrer ganzen Umgebung 
so viel willige Unterwürfigkeit und Gehorsam, so viel Ehrfurcht und Liebe 
gefunden, als diese. Viele rohe Dienstboten wurden in ihrem Haushalt 
gar bald sanft und gut und von dem Geiste der Gottesfurcht, des 
Fleißes und der Ordnung ergriffen, der von der Frau des Hauses aus¬ 
ging. Unser lieber Herr hat unter seinen Menschen zuweilen solche, 
durch welche er nur wohlthun und segnen, gar nicht strafen will. Ein 
solches Geschöpf voll Liebe und Segen war meine Mutter. Sie ver¬ 
mochte selbst uns Kinder nicht auf die gewöhnliche Art zu strafen, sondern 
dieses Strafamt übte der Vater stark und kräftig; die Mutter aber ward 
durch unsere Unarten nur betrübt und in sich gekehrt; und wenn wir 
Kinder dies bemerkten, that es uns weher, als des Vaters Zucht und 
Strafe; denn wir hatten die Mutter gar lieb. Zuweilen aber, als die 
Kinder größer und den gewöhnlichen Strafen entwachsen waren, sprach 
bei ihren Fehltritten die Mutter ein Wort von so nachdrücklicher, tief 
eindringender Art, daß der Eindruck davon noch jetzt feststeht, wo diese 
alten Kinder schon mit grauen Haaren einhergehen. Oder sie sah uns 
mit einem Blicke an, in welchem eine Kraft lag, die uns wie ein treuer 
Wächter nachging auf allen unsern Wegen und wie mit einem starken 
Arm uns zurückhielt vom Bösen. Ich weiß mich noch jetzt eines solchen 
Blickes zu erinnern, der mich tiefer beschämt hat und in diesem Augenblick 
noch tiefer und inniger beschämt als alles, was mich jemals vor dem 
Angesichte der Menschen beschämt und gedemütigt hat. Und was war 
es denn, was diesen Augen eine solche Kraft gab? Das war der Geist 
der Reinheit und Lauterkeit, welchen Gott in einem seltenen Maße dieser 
Seele gegeben hatte; und jene andere Kraft, welche wie der Arm eines 
Wächters die Kinder erfaßte und aus ihren Wegen begleitete, das war 
die Kraft des inbrünstigen Gebets und der ernstlichen Fürbitte bei Gott 
für diese Kinder. 
Wohl wenig Frauen haben so wenig gesprochen und so viel ge¬ 
than wie meine Mutter. In ihren jüngeren Jahren, als der Vater ein 
sehr dürftiges Einkommen und dabei ein saures Amt hatte, erwarb die
	        
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