IV. Aus der Erdkunde.
74. Die Geschichte eines Tales.
I.
Vor vielen Tausenden von Jahren floß der Vach schon durch das
Tal. Sein Rauschen und Rieseln war ohne Ende, ob er nun im Früh¬
ling, wenn der Schnee in den Bergen schmolz, mit trüber Flut und mit
stärkerem Brausen einhertobte, ob er im Sommer grünlich und glasklar
zwischen bemoosten Felsblöcken plätscherte, ob er im Herbste die Fülle der
gelben Blätter mit sich führte und in seinen stillen Buchten anhäufte,
oder ob er im Winter fast schwärzlich und dampfend durch Schnee und Eis
dahinging. So war es einst, so ist es heute, und so wird es sein, so¬
lange über ihn hinweg die Wolken ziehen und die Gipfel in Dunst hüllen,
solange der Tan füllt und in den feuchten Wiesen die Nebel brauen.
Es war vor langer Zeit, da hatte diesen Bach noch keines Menschen
Auge erblickt, dieweil es keine gab in weitem Umkreis, und das Tal
war erfüllt mit einem mächtigen Urwalde, der, aus sich selbst hervor¬
gewachsen, in sich selbst wieder verging. Keine andern Töne kannte es
als den Donner des Himmels, das Sausen des Windes in den Wipfeln,
das Rauschen der Gewässer, das Brüllen und den Schrei der wilden Tiere,
den Gesang der Vögel und das Summen der wilden Bienen. In den
Höhlen der Felsen und der uralten Eichbäume wohnten der Bär, der
Luchs und die wilde Katze, und an den Bach kamen §ur Tränke stolze
Hirsche und zierliche Rehe. Der Dachs hatte einen ausgetretenen Steig
von seiner Höhle bis ans Wasser, und der listige Fuchs schnürte dort
gern entlang, um bei der Tränke ein leckeres Vögelchen zu erhaschen oder
eine jener rot getüpfelten Forellen, die den klaren Bach in Menge er¬
füllten.
Die Bäume in diesem Tale wuchsen, wie sie wollten, und wurden
uralt, bis sie endlich, von den Larven der Küfer und anderer Insekten
vielfach durchbohrt und überall angehümmert von fleißigen Spechten, ab¬
starben und nur mit weißgebleichten Ästen dastanden. Tann kam ein
Sturmwind, der sie unter gewaltigem Krachen zu Boden schmetterte, und