Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

133 
104. Ter westfälische Hosschulze. 
Im Hofe zwischen den Scheuern und Wirtschaftsgebäuden stand mit 
aufgekrempten Hemdsärmeln der alte Hofschulze und schaute achtsam in ein 
Feuer, welches, zwischen Steinen und Kloben am Boden entzündet, lustig 
flackerte. Er rückte einen Ambos, der daneben stand, zurecht, legte sich 
Hammer und Zange zum Griffe bereit, prüfte die Spitzen einiger großen 
Radnägel, die er aus dem Bruststücke des vorgebundenen Schurzfells zog, 
legte die Nägel auf das Bodenbrett des Leiterwagens, dessen Räder er 
ausbessern wollte, und drehte die Stelle des Rades, von welcher ein Stück 
Schiene abgebrochen war, vorsichtig nach oben, worauf er durch untergeschobene 
Steine das Rad in seiner Stellung befestigte. 
Nachdem er wieder ein paar Augenblicke in das Feuer gesehen hatte, 
ohne daß seine hellen und scharfen Augen davon zu blinzeln begannen, fuhr 
er rasch mit der Zange hinein, hob das rothglühcnde Eisen heraus, legte 
es auf den Ambos, schwang den Hammer darüber, daß die Funken sprühten, 
schlug das noch immer glutröthliche um das Rad, da, wo die Schiene 
fehlte, schlug und schweißte cs mit zwei gewaltigen Schlägen fest und trieb 
dann die Nägel, welche es in seiner weichen Dehnbarkeit noch immer leicht 
hindurchließ, an ihre Plätze. 
Einige der stärksten und heftigsten Schläge gaben dem eingefügten 
Stücke das letzte Geschick. Der Schulze stieß mit dem Fuße die vor das 
Rad gelegten Steine hinweg, faßte den Wagen bei der Stange, um das 
geflickte Rad zu prüfen, und zog ihn ungeachtet seiner Schwere ohne An¬ 
strengung quer über den Hof, sodaß die Hühner, Gänse und Enten, welche 
sich ruhig gesonnt hatten, mit großem Geschrei vor dem rasselnden Wagen 
entflohen und ein paar Schweine aus ihrem eingewühlten Lager grunzend 
auffuhren. 
Zwei Männer, von denen der eine ein Pferdehändler, der andere ein 
Rendant oder Receptor war, hatten, unter der großen Linde vor dem Wohn- 
hause fitzend und ihren Trunk verzehrend, der Arbeit des alten rüstigen 
Mannes zugesehen. »Das muß wahr sein", rief jetzt der Pferdehändler, 
»Ihr hättet einen tüchtigen Schmied abgegeben, Hofschulze!" 
Der Hofschulze wusch in einem Stalleimer voll Wasser, welcher neben 
dem kleinen Ambos stand, sich Hände und Gesicht, goß dann das Feuer 
aus und sagte: »Ein Narr, der dem Schmied gibt, was er selber ver¬ 
dienen kann." Er nahm den Ambos auf, als sei er eine Feder, und trug 
ihn nebst Hammer und Zange unter einen kleinen Schuppen zwischen Wohn¬ 
haus und Scheuer, in welchem Hobelbank, Säge, Stemmeisen und was 
sonst zum Zimmer- und Schrcinergcwerk gehört, bei Holz und Brettern 
mancher Art stand, lag oder hieng. 
Indem der Alte sich unter dem Schuppen noch zu schaffen machte, 
sagte der Pferdehändler zu dem Receptor: »Wollen Sie glauben, daß der 
auch alle Pfosten, Thüren und Schwellen, Kisten und Kasten im Hause mit 
eigner Hand flickt, oder, wenn das Glück gut ist, auch neu zuschneidet? Ich 
meine, wenn er wollte, könnte er auch einen Kunstschreiner vorstellen und 
würde einen richtigen Schrank zu Wege bringen." 
»Da seid ihr im Irrthum", sprach der Hofschulze, der das Letzte gehört
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.