Full text: Hand-Atlas für die Geschichte des Mittelalters und der neueren Zeit

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98 B. Lyrisch epische Poesie. VI. Erzählungen, Balladen, Romanzen. 
Sah sie drüben sich drehn und wiegen; 
Wehe, wenn Einer hineingestiegen! 
7. Ehe gedacht sie den Gedanken, 
Sieht sie ihn mit zwei Wanderern 
schwanken; 
Die sie schauet, es sind in Schöne 
Ihre jungen, einzigen Söhne. 
8. Von dem Weidwerk heimgekehret, 
Finden sie den Strom empöret, 
Haben doch, die rüstigen Jungen, 
Kecklich in den Kahn sich geschwungen. 
9. Doch es lassen sich die Wellen 
Nicht wie Thiere des Waldes fällen, 
Und nicht half der Mutter Klagen, 
Als sie den Kahn sah umgeschlagen. 
10. Wie sie nun in langem Harme 
Breitet ihre beiden Arme 
Bei den Wellen, den schaumesbleichen, 
Ueber ihrer Kinder Leichen: 
11. Mußte sie der Mütter gedenken, 
Die noch können schaun versenken 
In den schnell empörten Wogen 
Söhne, die sie sich erzogen. 
12. Und es werden im Mutterherzen 
Leichter ihr die bittern Schmerzen, 
Wenn sie Andern kann ersparen 
Solches Leid, wie sie's erfahren. 
13. Und noch ehe sie ausgetrauert, 
Ward gemeißelt und gemauert, 
Ward der Strom ins Bett gezwänget 
Und die hohe Brücke gespreuget. 
14. Sah sie dann oft fröhliche Kna¬ 
ben 
Ueber den Pfad von Steine traben 
Und die schäumenden Wasser höhnen, 
Die in felsiger Tiefe tönen, 
15. Und mit leichtem Tritte wallen 
Mütter hinter den Kindern allen: 
Sieh, da flössen ihre Thränen 
Mild von Freude, mild von Sehnen. 
16. Und ihr Werk, das fromme, dauert; 
Aber sie hat ausgetrauert, 
Höret die Wasser nicht mehr toben, 
Ist bei den jungen Söhnen droben. 
48. Das Singenthal. (1834.) 
Von Ludwig Uhland. Gedichte. Stuttgart, 1863. 
1. Der Herzog tief im Walde 
Am Fuß der Eiche saß, 
Als singend an der Halde 
Ein Mägdlein Beeren las. 
Erdbeeren, kühl und duftig. 
Bot sie dem greisen Mann, 
Doch ihn umschwebte luftig 
Noch stets der Töne Bann. 
2. „Mit deinem hellen Liede", 
So sprach er, „feine Magd, 
Kam über mich der Friede 
Nach mancher stürm'schen Jagd. 
Die Beeren, die du bringest, 
Erfrischen wohl den Gaum; 
Doch singe mehr! Du singest, 
Die Seel' in heitern Traum. 
3. Ertönt an dieser Eiche 
Mein Horn von Elfenbein, 
In seines Schalls Bereiche 
Ist all das Waldthal mein; 
So weit von jener Birke 
Dein Lied erklingt rundum, 
Geb' ich im Thalbezirke 
Dir Erb' und Eigenthum." 
4. Noch einmal blies der Alte 
Sein Horn ins Thal hinaus, 
In ferner Felsenspalte 
Verklang's wie Stnrmgebraus; 
Daun sang vom Birkenhügel 
Des Mägdleins süßer Mund, 
Als rauschten Engelflügel 
Ob all dem stillen Grund. 
5., Er legt in ihre Hände 
Den Siegelring zum Pfand: 
„Mein Weidwerk hat ein Ende, 
Vergabt ist dir das Land." 
Da nickt ihm Dank die Holde 
Und eilet froh waldaus; 
Sie trägt im Ring von Golde 
Den frischen Erdbeerstrauß. — 
6. Als noch des Hornes Brausen 
Gebot mit finstrer Macht, 
Da sah man Eber hausen 
In tiefer Waldesnacht; 
Laut bellte dort die Meute, 
Vor der die Hindin floh, 
Und fiel die blut'ge Beute, 
Erscholl ein wild Halloh. 
7. Doch seit des Mägdleins Singen 
Ist ringsum Wiesengrün, 
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