— 1765 —
q) Odysseus erzählt den häaken seine 5chicksale.
(Theodor Dielitz, nach Gustav Schwab und Karl Friedrich Becker.)
Auf die Aufforderung des Alkinous, über seine Herkunft und seinen
Namen Auskunft zu geben, begann Odysseus also zu sprechen: „Herrlich
ist es hier bei euch, und eine Wonne ist es, den Sänger zu hören und
sein unsterbliches Lied. Schöneres kenne ich nichts, als wenn die Reihen
der Gäste rings im Saale schmausend sitzen, der Herold von einem Tische
zum andern geht, die Becher voll zu schenken, und nun der Sänger herr⸗
liche Lieder singt von den Großthaten alter und neuer Zeit, daß alle Hörer
sich freuen. Aber ihr fragt mich jetzt um mein jammervolles Schicksal.
Ach, das wird mich noch trauriger machen! Was soll ich doch zuerst, was
zuletzt euch erzählen? Denn die himmlischen Götter haben viel Elend auf
mich gehäuft. Mein Name mag das erste sein, damit ihr mich kennet und
mich als euern Gastfreund im Angedenken behaltet, wie weit uns auch das
Schicksal trennen mag. Ich bin Odysseus, der Sohn des Lasrtes, durch
manche That der Welt bekannt; der Ruhm meiner Klugheit ist über die
Erde verbreitet. Mit meiner aus zwölf Schiffen bestehenden Flotte hatte
ich, nachdem ich Troja verlassen, bereits die südliche Spitze von Griechen⸗
land erreicht, als sich ein entsetzlicher Sturm erhob, der uns wieder ins
offene Meer hinaustrieb. Nachdem die Fahrzeuge neun Tage lang umher—
geworfen worden waren, landeten wir endlich am Ufer der Lotophagen.
Dieses Volk nährt sich bloß von Lotosfrüchten, die so süß sind, daß, wer
sie einmal gekosiet hat, das Land nicht wieder verlassen will und Heimat
und Freunde darüber vergißt. Mit großer Mühe gelang es mir, die Ge—
fährten wieder auf die Schiffe zu bringen; dann lichtete ich die Anker und
kam nach einigen Tagen an eine kleine, unbewohnte Insel in der Nähe der
sizilischen Küste, wo ich des himmelhohen Ätna ansichtig wurde, aus welchem
unaufhörlich eine schwarze Rauchwolke emporstieg. Dieser wunderbare Anblick
veranlaßte mich, mit einem Teile meiner Gefährten nach der großen und
fruchtbaren Insel hinüberzuschiffen. Als ein vorsichtiger Mann unterließ
ich jedoch nicht, einen Schlauch köstlichen Weins mit hinüberzunehmen. Als
ich gelandet war, verbarg ich das Schiff in einer versteckten und wenig
zugänglichen Bucht. Nur zu bald zeigte es sich, daß ich in beiden Stücken
fehr weise gehandelt hatte; denn ich befand mich im Lande der Kyklopen,
ungeschlachter Riesen mit einem einzigen Auge in der Mitte der Stirn, die
weder Ackerbau kennen, noch Götter und Menschen achten. In der Nähe
des Ufers erblickte ich mit meinen Gefährten eine gewaltige Höhle, die
rings mit einem Walle von ungeheuern Felsblöcken umbaut war und, wie
wir zu unserm Unheile zu spät erfuhren, einem der wildesten unter diesen
Riesen, dem Polyphem, zur Wohnung diente. Wir traten in dieselbe ein
und waren eben damit beschäftigt, uns darin umzuschauen, als der fürchter—
liche Eigentümer erschien. Nachdem er seine Schafe und Ziegen hinein—
geirieben und den Eingang der Höhle mit einem Steine verschlossen hatte, den
fünfzig Pferde nicht von der Stelle bewegt haben würden, zündete er ein
großes Feuer an, um seine Abendmahlzeit zu bereiten. Bei dem hellen
Scheine der auflodernden Flamme gewahrte er uns bald, obwohl wir uns
zitterns in den Winkeln der Höhle zu verbergen gesucht hatten. Auf seine