Full text: Moderne deutsche Dichter

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Der Dichter wandle durch die Zeit mit euch, 
Und in der Bühne luft'gem Märchenreich, 
Sei ihm ein Denkmal prangend aufgemauert, 
Das Erz und Schrift und Völker überdauert! 
Aus der Novelle: 
„Der Lotsencommandeur.“ 
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Das Haus des Lotsencommandeurs, von dem ich rede, liegt hart 
am Ausgange des Stroms in die offene See; eine Viertelstunde Wegs 
ist der von Bollwerken eingefasste, von Booten und Schiffen belastete, 
träge, schmutziggrane Strom an den kleinen Häusern der kleinen Hafen— 
stadt entlang geschlendert, bis er das letzte Hans erreicht, das ihm 
gleichsam den Reisesegen ins Meer hinaus gibt: dieses Haus hat der 
Lotsencommandeur für sich und seine Kinder gebant; denn seine Fran 
ist todt. Aus der offenen Veranda und von dem Balkon, der darüber 
aufsteigt, blickt man auf den Uferrand, die kurzen schmalen Hafendämme 
mit den Feuerthürmen und auf die weite See; aus dem Arbeitszimmer 
des Lotsencommandeurs blickt man auch rechts auf den hinausziehenden 
Strom und das Rettungsboot, das, zehn Schritte entfernt, am Bollwerk 
schaukelt. Was wäre mein Lotsencommandeur ohne das Rettungsboot; 
und was wäre das Rettungsboot ohne meinen Lotsencommandeur! 
Manches Dutzend von Gescheiterten, Gestrandeten, Ertrinkenden hat 
es schon gerettet; keinen ans diesen Dutzenden ohne den Mann, der es 
bauen, der es verbessern ließ (vor zehn Jahren vielleicht), der auf der 
ersten Probefahrt umschlug und ertrank, aber nach zwei Stunden — 
ein schon Aufgegebener — wieder zum Leben gebracht ward; den die 
ganze „Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ kennt (aber ich 
werde diesen hübschen, lang aufgeschossenen, kranshaarigen Mann nicht 
beim Namen nennen), und der von allen „Rettungsstationen“ dieser 
Gesellschaft an Nord- und Ostsee vielleicht die thatenreichste und prämien— 
reichste commandiert: denn wo kein andrer mehr wagt, fängt für ihn 
das Wagen erst an. Seine Freunde haben ihn im Scherz den „Menschen— 
fischer“ getanft; übrigens macht er ein ziemlich grimmiges Gesicht, wenn 
man ihn so nennt, zieht die Brauen unsinnig hoch hinauf und lächelt 
geringschätzig; denn so lang er es nicht auf hundert Gerettete gebracht 
hat, muss man nicht davon reden! — Du aber, der du dein Leben 
noch nie für einen andern gewagt hast, glaube nicht, dass der Lotsen— 
commandeur, von dem ich rede, den Wert seines Lebens nicht zu schätzen 
wüsste, er es für jeden Unbekannten in die Wellen wirft; er hat es 
sehr lieb; ich weiß es. Er genießt es, wie du und ich; er genießt es 
aus seinem Tschibnk, den die beiden Töchter ihm stopfen, aus seinen 
Büchern, die er mit Andacht studiert, aus seinem Fernrohr, mit dem 
er das große Buch des offenen Meeres durchblättert, aus dem Anblick
	        
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