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8. Die Schneeberge.
Seit die Welt steht, hatte der Schnee in seinem schwankenden Wolken¬
hause eine Sehnsucht nach der Erde. Und er sprach zu sich selbst: „Ach
könnte ich doch da unten ruhen auf festem Grund unch Boden und müßte
nicht schweben hier oben in der Luft unstet und flüchtig!" Und er senkte sich
herab von der schwindelnden Höhe und ließ sich nieder auf den weitgedehnten
Ebenen und sanftgewölbten Hügeln. Aber die Sonne kam und war neidisch
auf den Wolkenbewohner, daß er genießen sollte, was ihr versagt sei, der
hehren Himmelsbewohnerin. Denn sie müsse, dachte sie, täglich den weiten
Kreis am Himmel durchlaufen ohne Rast und ohne Ruh'; der Schnee aber
könne sich nun ruhig lagern aus der schönen Erde. Und die Sonne, glühend
vor Neid, nahm den Schnee weg von den Ebenen und Hügeln. Da flüchtete
er sich auf die Berge und bettete sich dort auf Kräuter und Blumen. Aber
die Sonne gönnte ihm auch dieses Lager nicht und vertrieb ihn mit ihren
glühendsten Strahlen. Nun sprachen die höchsten Berge zum Schnee: „Komm
du zu uns und lasse dich nieder auf unsern kahlen Felsen! Hat uns die
Natur ein Kleid versagt, so kleide du unsere nackten Glieder in deine blendende
Hülle! Und wenn sich rings unter uns die Natur mit bunten Farben schmückt,
so rage über das jugendliche Grün unser ehrwürdiges Greisenhaupt empor!"
Da breitete sich der Schnee aus über die Felsen und blieb ein ewiger Gast
und die Berge tragen dankbar seinen Namen.
Aber die Sonne beneidete den Schnee nicht mehr um sein hartes Felsen¬
lager und oft ruhen ihre letzten Strahlen, wenn sie selbst längst dem sterb¬
lichen Auge entschwunden ist, noch lange auf den Spitzen der Berge und diese
leuchten über das dämmernde Tal wie rotglühende Sterne. A. Schmid.
9. Tod und Schlaf.
Brüderlich umschlungen durchwandelten der Engel des Schlummers und
der Todesengel die Erde. Es war Abend. Sie lagerten sich auf einem Hügel,
nicht fern von den Wohnungen der Menschen. Eine wehmütige Stille waltete
rings umher; auch das Abendglöckchen im fernen Dörflein verstummte. Still
und schweigend, wie es ihre Weise ist, saßen die beiden wohltätigen Genien
der Menschheit in traulicher Umarmung und schon nahte die Nacht. Da erhob
sich der Engel des Schlummers von seinem bemoosten Lager und streute mit
leiser Hand die unsichtbaren Schlummerkörnlein. Die Abendwinde trugen sie
zu den stillen Wohnungen des müden Landmannes. Nun empfing der süße
Schlaf die Bewohner der ländlichen Hütten, vom Greise, der am Stabe geht,
bis zu dem Säugling in der Wiege. Der Kranke vergaß seiner Schmerzen,
der Trauernde seines Kummers, die Armut ihrer Sorgen. Aller Augen
schlossen sich.
Jetzt, nach vollendetem Geschäft, legte sich der wohltätige Engel des
Schlummers wieder zu seinem ernsteren Bruder. „Wenn die Morgenröte er¬
wacht," rief er mit fröhlicher Unschuld, „dann preisen mich die Menschen als
ihren Freund und Wohltäter. O, welche Freude, ungesehen und heimlich