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9- Wie Gudrun die letzte Nacht in der Normandie verlebte.
In der Burg verbreitete sich das Gerücht, daß Gudrun jetzt Königin
der Normandie werden wolle. Auch zu Hartmut drang es, und freudig
eilte er zu der Geliebten, um sie zu umarmen. Aber stolz trat sie zurück
mit den Worten: „Halt! das wäre für euch eine Schande, eine arme,
schlecht gekleidete Wäscherin zu umarmen; steh' ich erst im königlichen
Schmucke, dann ziemt es euch, mich als euresgleichen zu begrüßen." Da
befahl Hartmut, daß Gudrun gebadet und prächtig gekleidet würde; auch
wurden "ihre Schicksalsgefährtinnen (natürlich mit Ausnahme der ungetreuen
Hergart) zu ihr gelassen und glänzend bewirtet. Diese aber waren traurig
über den vorgeblichen Entschluß ihrer Herrin, in der Normandie zu bleiben.
Da lachte die schalkische Gudrun, die sich jetzt so glücklich fühlte, hell auf,
sie, der doch seit dreizehn Jahren das Lachen fern gewesen war. Lauscher
hinterbrachten dies Gerlinden, und diese gerieth in große Angst wegen des
unbegreiflichen Lachens; wohl kam sie jetzt auf den Gedanken, ob die Feinde
in der Nähe sein sollten, aber Ludwig und Hartmut beruhigten sie.
Gudrun hatte inzwischen die Aufwärter fortgeschickt und die Thüren
verriegelt und offenbarte sich jetzt ihren Freundinnen. „Hört", sagte sie,
„ich habe heute Herwig und Ortewin geküßt; morgen früh sind sie mit
Heeresmacht vor der Burg. Diejenige von euch, die mir zuerst am frühen
Morgen die Feldzeichen der Friesen erblickt, werde ich königlich belohnen."
10. Wie die Friesen die Normannenburg nahmen.
Beim ersten Grauen des Tages war wirklich die Burg rings einge¬
schlossen. Der Türmer blies; Gerlindc fuhr aus unruhigem Schlaf empor
und rüttelte Ludwig auf: „Gudruns Lachen", rief sie, „werden deine
Helden heute mit dem Leben bezahlen." Nachdem sic von der Mauer aus
die Massen der Feinde beobachtet hatte, bat sie Hartmnt, sich nicht gegen
jene ins Freie zu wagen, man könne ja von oben herab Steine schleudern
und mit Armbrüsten schießen; aber ihr ritterlicher Sohn hielt nur den
Kampf im offenen Felde für ehrenwerth und weigerte sich, ans die Rath¬
schläge der Mutter einzugehen.
Man zog aus den Burgthoren. Nun begann aber Wate zum Angriff
zu blasen: dreißig Meilen weit hörte man cs längs dem Strande klingen,
und als er zum dritten Male blies, da wallten die Meercswellen und der
Ufergrund wankte und die Ecksteine wollten aus den Mauern springen. Im
ersten Anlauf verwundete Hartmut Ortewin und den ihm zu Hülfe eilenden
Horand. An einer andern Stelle trafen Herwig und Ludwig auf einander.
Der starke Alte schlug seinen Gegner so, daß er zu Boden sank, aber
Herwig raffte sich schnell wieder auf, und indem er mit Scham emporblickte,
ob Gudrun auch seine Schmach gesehen habe, sammelte er alle seine Kraft,
verfolgte Ludwig und schlug ihm das Haupt herunter.
In der Burg verkündete der Wächter den Fall des Königs, und
Schreien und Wehklagen erscholl. Das hörte Hartmut, und von schlimmen
Ahnungen erfüllt, wollte er jetzt die Seinen hinter die festen Mauern zurück¬
führen. Aber er fand das Thor vom riesigen Wate besetzt. „Das ist mir
ein schlimmer Pförtner", rief Hartmnt, aber unverzagt warf er sich auf den